Patientin in Entzugsklinik sexuell belästigt

Weil der Angeklagte alles abstreitet, ist die Wahrheitsfindung schwierig. Das Schöffengericht in Backnang glaubt letztlich der 42 Jahre alten Betroffenen. Der 46-jährige Angeklagte wird zu einer neunmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.

Neunmonatigen Haftstrafe wegen sexueller Belästigung. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

© Sang Hyun Cho auf Pixabay

Neunmonatigen Haftstrafe wegen sexueller Belästigung. Symbolfoto: S. Cho/Pixabay

Von Hans-Christoph Werner

Backnang. Vor dem Schöffengericht in Backnang hat sich ein 46-jähriger Schweißer wegen sexueller Nötigung zu verantworten. Er wird zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt. Mit der Anklageschrift legt der Staatsanwalt dem Angeklagten folgenden Sachverhalt zur Last: In einer Januarnacht dieses Jahres soll der 46-Jährige in einer Entzugsklinik das Zimmer einer Mitpatientin betreten haben. Erst bestaunte er die von der 42-jährigen Kinderpflegerin aufgestellten Bilder ihrer Kinder. Dann soll der Schweißer die 42-Jährige an den Unterarmen gepackt und versucht haben, sie zu küssen. Diese entwand sich seinen Armen und flüchtete zum Fenster. Dort umfasste sie der 46-Jährige von hinten, berührte sie unsittlich. Wieder gelang es der Frau, sich loszureißen, aber auch der Angeklagte ließ von ihr ab. Die Frau floh aus dem Zimmer. Vor dem Haus auf Distanz stehend rauchten beide Beteiligte noch eine Zigarette.

Der Angeklagte bestreitet den Vorfall. Er und die Kinderpflegerin hätten sich durch den mehrwöchigen Klinikaufenthalt gekannt. Dabei erwies sich der 46-Jährige als hilfsbereit. Mit einem Auto ausgestattet fuhr der Schweißer die 42-Jährige am Wochenende nach Hause oder holte sie vom Bahnhof ab. Ja, rumgeflirtet hätten sie, erklärt der Angeklagte. Und auch an die für ihn offenbar vielsagende Körpersprache der Kinderpflegerin erinnert er sich. Zu Zärtlichkeiten sei es allerdings im Vorfeld nicht gekommen. Aber warum, so fragt der Staatsanwalt, sollte die Kinderpflegerin dem Angeklagten einen solchen Vorfall anhängen? Auch das weiß der Angeklagte zu erklären. Neid sei es gewesen. Denn er habe alles gehabt, was die Kinderpflegerin angeblich entbehrte: Familie, Haus und Arbeitsstelle. Der Verteidiger des Angeklagten pflichtet diesem fleißig bei.

Keine Antwort auf die WhatsApp-Frage „Bist du bereit?“

Die Kinderpflegerin, in den Zeugenstand gerufen, erzählt die Sache wie bereits geschildert. Sie sei bereits in Nachtkleidung gewesen, als der Schweißer an der Tür klopfte, aber auch gleich eintrat. Eine vorausgehende WhatsApp-Nachricht von ihm mit den missverständlichen Worten „Bist du bereit?“ ließ sie unbeantwortet. Als der Richter den Angeklagten nach der Nachricht fragt, windet der sich. Sie könne alles Mögliche bedeuten. Einige Zeit zuvor, so die Kinderpflegerin weiter, habe man zusammen mit anderen Mitpatienten über Massage gesprochen. Der Angeklagte nahm das Thema auf und schickte der Kinderpflegerin eine Textnachricht mit der Aufforderung, ihn zu massieren.

Eine Kriminaloberkommissarin berichtet, wie der geschilderte Fall zur Polizei kam. Am Tag nach dem Vorfall sei einer Therapeutin die Verstörtheit der Kinderpflegerin aufgefallen. Auf Nachfrage erzählte sie das Geschehene. Die Therapeutin riet, die Sache anzuzeigen.

Der Staatsanwalt geht in seinem Plädoyer davon aus, dass die Anklageschrift zutrifft. Er fordert ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Der Verteidiger des Angeklagten stützt sich darauf, dass eine andere Zeugin die beiden Beteiligten nach dem Vorfall gemeinsam aus dem Zimmer kommen sah. Auch die anschließende gemeinsame Zigarettenpause deute nicht auf irgendeinen Vorfall hin. Und mit einer Umarmung habe die Kinderpflegerin den Schweißer bei dessen Entlassung aus der Klinik verabschiedet. Die Strafforderung des Staatsanwalts findet der Rechtsanwalt unbegreiflich. Kleine Zärtlichkeiten würden doch täglich ausgetauscht. Sein Mandant müsse freigesprochen werden.

Während das Schöffengericht berät, geht es im Gerichtssaal hoch her. Der Angeklagte steht, um Fassung ringend, am offenen Fenster. Die Ehefrau des Angeklagten geht den Staatsanwalt wegen seines Plädoyers an. Und für den Rechtsanwalt des Angeklagten ist das Gesetz, auf das sich die Anklage stützt, einfach schlecht. Ausführlich begründet der Vorsitzende Richter den Urteilsspruch. Er wie auch Schöffen und Staatsanwalt müssten sich aus dem Gehörten ein Bild machen.

Ein Kriterium hierbei sei die Stringenz der Aussagen. Die Kinderpflegerin sei gegenüber der Therapeutin, der Polizei, der Kriminalkommissarin sowie vor Gericht beim gleichen Sachverhalt geblieben. Das spreche für den Wahrheitsgehalt. Dagegen habe sich der Angeklagte durch seine Textnachrichten zur Massage und am Abend des Vorfalls verdächtig gemacht.

Angeklagter gibt bei einer anderen Patientin Kussversuch zu

In einem Gespräch mit einer anderen Patientin habe der Angeklagte zudem einen Kussversuch eingeräumt. Alles Anhaltspunkte, die gegen die Aussagen des Angeklagten sprächen. Der 46-Jährige sei wohl einer Fehlinterpretation von Signalen der Kinderpflegerin aufgesessen. Da kein hohes Maß an Gewalt im Spiel gewesen sei, könne von einem minder schweren Fall von sexueller Nötigung ausgegangen werden. Auch bemüht sich der Vorsitzende Richter deutlich zu machen, dass das Schöffengericht eine Bewährungsstrafe ausgesprochen habe. Der Angeklagte müsse somit nicht ins Gefängnis. Als spürbare Sanktion habe der 46-Jährige 1500 Euro an den Verein Kinder- und Jugendhilfe zu zahlen. Zwei Jahre lang soll ein Bewährungshelfer den Verurteilten begleiten und unterstützen. Insbesondere deshalb, weil der Schweißer einen Monat nach Entlassung aus der Klinik wieder zur Flasche gegriffen habe. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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Erstellt:
23. Juli 2021, 06:00 Uhr

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