Pizza verfehlt knapp die absolute Mehrheit
Demokratisches Handeln und Verhalten will gelernt sein. Daher ist die Partizipation im Orientierungsplan für die Kindergärten seit Jahren fest verankert. In den Einrichtungen gibt es verschiedenste Formen, das Thema Beteiligung und Mitbestimmung kindgerecht mit Leben zu füllen.

Die Spannung steigt: In welche der vier verschiedenfarbigen Schüsseln wird Aurelia ihren Abstimmungsstein legen und damit die Wahl des nächsten Essens mitentscheiden? Foto: N. Scharpf
Von Nicola Scharpf
Aspach/Backnang. Die Wahl ist entschieden, das Ergebnis liegt vor: Die nächste gemeinsam zubereitete Speise im Kindergarten wird eine Pizza mit Rietenauer Tomaten aus dem kitaeigenen Wichtelgarten. Pizza hat mit 13 von 29 Stimmen knapp die absolute Mehrheit verfehlt und sich klar gegen die drei weiteren Vorschläge Nudeln mit Tomatensoße, Tomatensuppe und Tomatensalat durchgesetzt. Die Leiterin des Rietenauer Kindergartens, Christina Grießmayr, kommentiert im Nachgang erstaunt das Abstimmungsergebnis: „Es ist witzig, dass es heute die Pizza wurde. Tomatensoße ist eigentlich der Favorit.“ Nun denn, eine Wahl, das Wählerverhalten ist für Überraschungen gut – auch schon bei den Jüngsten. Den Kindertreff gibt es im Rietenauer Kindergarten seit rund vier Jahren. Regelmäßig – die Zeit coronabedingter Beschränkungen außen vor gelassen – findet er statt, damit die Kinder über Dinge, die im Kindergarten anstehen, abstimmen können.
Schon bevor die Kinder den „Plenarsaal“ betreten, rufen sie freudig durch den Gang: „Kindertreff, Kindertreff, Kindertreff!“ Sie beginnen ihren Treff dann mit dem Lied „Wir haben eine Meinung, du kannst uns gerne fragen. Denn Kinder haben schon etwas zu sagen. (...) Mitreden ist uns wichtig, ist besser als zu schweigen.“ Anschließend werden Aufgaben verteilt: Zwei Kinder assistieren der Kindergartenleiterin. Ein Kind ist der Zeitwächter, der die Sanduhr im Blick hat und Bescheid gibt, wenn sie abgelaufen ist, damit die Kinderkonferenz im zeitlichen Rahmen bleibt. Ein weiteres Kind bekommt eine Glocke, ist für das Einhalten der Sitzungsdisziplin verantwortlich und soll läuten, wenn es zu laut wird. Der Nächste fungiert als Protokollführer und malt die gefassten Beschlüsse in ein Buch. Und dann gibt es noch die Redemuschel. Nur wer sie in der Hand hält, darf sprechen.
Dieses Mal geht es also um das Obst und Gemüse, das im Wichtelgarten wächst: „Was haben wir eingepflanzt und was wächst schon toll?“, fragt Grießmayr in die Runde. Karotten, Mais, Erdbeeren, Erbsen, Kohlrabi. „Die Tomaten sind schon reif“, sagt Grießmayr. „Jetzt wollen wir überlegen: Was könnten wir aus den Tomaten machen, wenn wir sie geerntet haben?“ Die Vorschläge folgen prompt. „Tomatensoße“, sagt Amalia. „Auf die Pizza legen“, sagt Malou. „Tomatensalat“, meint Lilly und ihr Bruder Philipp: „Tomatenmarmelade. Also Brotaufstrich.“ Lino findet: „Ketchup“. Vinzent ist für „Tomatensuppe“. „Man kann die Tomaten auch roh essen“, stellt Amelie fest. Am Schluss bündelt Grießmayr die Ideen: Suppe, Nudeln mit Soße, Salat, Pizza. „Wir haben jetzt vier tolle Vorschläge. Aber dafür reichen die Tomaten nicht. Also stimmen wir ab.“ Jedes Kind bekommt einen Abstimmungsstein, für jedes Gericht gibt es eine verschiedenfarbige Schüssel – gelb für Nudeln, rot für Pizza, blau für Suppe, orange für Salat. Der Reihe nach legen die Kinder ihre Steine in die Schüsseln, zählen aus und ernennen die Pizza zum Wahlsieger. Die Freude bei der größten Fraktion, den 13 Kindern, die für die Pizza gestimmt haben, ist groß – die Enttäuschung beim Rest nicht allzu offensichtlich. Klaglos akzeptieren die Unterlegenen, dass ihr Wunschgericht nicht mehrheitsfähig war – keine Selbstverständlichkeit. „Es hat schon Bestechungsversuche gegeben oder Zwischenrufe oder das Einwerfen des Steinchens wurde von anderen Kindern kommentiert. Wir haben schon oft über ein solches Verhalten gesprochen. Es geht für die Kinder darum, es auszuhalten, dass man auch mal unterliegt. Das ist ein Übungsprozess, etwas, das sich aufbauen muss, das man lernen muss“, erläutert Grießmayr.
Das Thema Partizipation ist im baden-württembergischen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung – die Grundlage und der Kompass für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen – verankert. Es wird in unterschiedlicher Ausprägung in allen Einrichtungen konzeptionell umgesetzt.
Zwei Beispiele aus Backnanger Kindertagesstätten: In der Kita Heininger Weg gab es zuletzt ein Projekt, bei dem die Vorschulkinder einen Raum, der frei geworden war, mitgestalten durften. Was machen wir mit dem Raum? Wie soll er eingerichtet werden? Das waren zentrale Fragen. Die Erzieherinnen haben mit den Vorschülern Gespräche geführt, was die Kinder wollen, und anschließend darüber, was sich tatsächlich umsetzen lässt, schildert Einrichtungsleiterin Sabine Feinauer, die das Thema Demokratiebildung in der Kita Heininger Weg weiter vorantreiben will. Teil dessen ist darüber hinaus das Beschwerdemanagement, weshalb es seit Kurzem eine wöchentliche Kindersprechstunde gibt, für die sich die Kinder anmelden können, um mit der Leiterin ihre Anliegen zu besprechen. „Wenn Kinder ihre Rechte bekommen, müssen Erwachsene freiwillig ein Stück weit auf ihre Macht verzichten. Das ist schon immer auch so ein Machtding.“ Demokratiebildung, so Feinauer, hat ihre Anfänge schon in der Kinderkrippe. „Die Kinder sollen merken, sie haben Rechte und sie werden gehört. Das dient dazu, die eigene Meinung kundtun zu können.“ Im Waldkindergarten gibt es ein Tageskind, das anhand von Fotokärtchen gezogen wird. Es ist dann das Bestimmerkind und darf entscheiden, was gesungen und gespielt wird und welchen Platz im Wald die Gruppe ansteuert. Leiterin Kerstin Stoppel betont aber, dass Partizipation im Kita-Alltag ganz viel nebenher passiert. Die Kinder dürfen mitbestimmen, welche Spielsachen sie morgens in den gemeinschaftlichen Bollerwagen packen, welches Ziel sie bei Ausflügen ansteuern, welchen Inhalt das Stück beim Theaterprojekt haben soll. „Die Kinder sollen die Fähigkeit bekommen, ihre Meinung äußern zu können, und empathiefähig werden, damit sie die Gefühle anderer verstehen. Das ist die Basis.“ Damit ein Konsens mit dem Gegenüber entstehen kann, setzt man im Waldkindergarten auf gute Kommunikationsregeln: zuhören, andere aussprechen lassen.
Demokratie fußt allerdings nicht nur auf Freiheit, Selbstbestimmung, Rechten eines jeden Einzelnen. Das Mittragen von Regeln und Pflichten gehört auch dazu. Von daher sind sich die Einrichtungsleiterinnen einig, dass die Kinder im Kita-Alltag beides lernen sollen. „Selbst entscheiden zu können, ist wichtig“, schildert Grießmayr. „Dinge mitzutragen, ist aber genauso wichtig. Es gilt, eine gesunde Mischung zu finden, einen Mittelweg, der beide Bereiche berücksichtigt und abwägt.“ Im Waldkindergarten, so Stoppel, wird das durch Gemeinschaftsrituale unterstützt. Jeder verfolge seine Ziele, aber man sei immer auf dem gleichen Weg. „Die eigene Freiheit endet da, wo die Grenze des anderen beginnt.“
„Es geht für die Kinder darum, es auszuhalten, dass man auch mal unterliegt. Das ist ein Übungsprozess.“ Christina Grießmayr,Leiterin Kindertagesstätte Trinkgasse