Schönes Chaos

Der Winter gewährt den Bayern eine Atempause

Am Freitag hört der Schneefall in den Alpen vorübergehend auf. Das bayerische Oberland schaufelt, fräst und spielt sich durch die weißen Massen – und wartet bang aufs Wochenende.

Miesbach Plötzlich bleibt der Zug stehen. Nach Schliersee soll er fahren, und noch weiter in die Berge hinein, nach Bayrischzell. Von München ist er sogar pünktlich losgekommen. Und gefahren ist er durch eine Landschaft so weiß, weißer geht’s nicht. Drübergeglitten ist er so sanft wie ein Luftkissenboot; die Schienen hat man unter dem Schnee nicht gesehen. Und jetzt, keine dreißig Kilometer hinter der bayerischen Landeshauptstadt, ist Schluss. Endstation Holzkirchen.

Ein Bus, immerhin, quält sich weiter nach Miesbach. Diese oberbayerische Bilderbuchstadt hat den Katastrophenfall ausgerufen, und mit jedem Kilometer Annäherung versteht man mehr, warum. Die am Straßenrand aufgehäuften Schneeberge werden immer höher, Wegweiser versinken im Weiß, und selbst Ampelanlagen in der Stadt sind blickdicht verweht. Ist rot? Ist grün? Der Fahrer testet’s, indem er sich nach vorne tastet.

Schnee an der Straße macht die Ortsdurchfahrt eng; zu den Häusern sind keine Zugänge freigeschippt, sondern regelrechte Gräben ausgehoben, und in den Kurven, wo kaum zwei Autos und noch schlechter zwei Lastwagen aneinander vorbeikommen, schrappt der Bus immer wieder die schmutzig-eisigen Schneehaufen entlang. Auf den meterdick bedeckten Dächern bildet der Schnee erste Wulste: Wann kommen diese Massen runter?

Der Bus fährt neben der Autobahn München-Salzburg her. Noch wenige Stunden zuvor haben dort Hunderte von Autos und Lastwagen stundenlang im Schnee ausharren müssen, weil ein Fahrzeug quer stand. Jetzt ist die wichtigste Straßenverkehrsachse im deutschen Südosten geräumt. Und: Es kommt nach Tagen der Trübnis auch die Sonne raus. Das macht die Sache gleich viel freundlicher.

Weiter als bis Schliersee schafft es der Bus aber auch nicht. Dahinter: gesperrt wegen Lawinengefahr und wegen Schneebruchs. Und als eine Frau den Busfahrer fragt, ob sie am Sonntag wohl mit ihm wieder aus dem Tal rauskommen wird, da lacht der nur auf, laut und irgendwie verzweifelt: „Sonntag? Wenn ich noch nicht mal weiß, was in zwei Stunden sein wird!“

Bleiben wir also in Schliersee. Zwar ist der Siebentausend-Einwohner-Ort nicht eingeschneit wie etwa seit einer Woche das Dorf Jachenau am Walchensee. Aber Schliersee gehört zum Kreis Miesbach; der Katastrophenfall gilt also auch hier. Der Schnee liegt im Ort mindestens 1,2 Meter hoch, und die zusammengeschobenen Schneeberge erreichen bis zu vier Meter. Doch die Leute gehen erstaunlich ­gelassen damit um. „Wir müssen jetzt halt mehr schaufeln“, sagt ein Mann im Stehcafé Zum Moosbäck: „Aber sonst . . . “

Hoch oben auf dem Dach der der Schreibwarenhandlung steht, angeseilt, ein Mann. Der Schnee reicht ihm bis zur Hüfte. Die Laune hat er sich noch nicht verderben lassen. „Fotografieren kostet extra!“, ruft er den Leuten zu, die ihn von unten ablichten wollen. Es staubt, glitzerweiß in der Sonne, auch von ein paar anderen Dächern.

Ein Mann mit Obelixfigur und zusammengewürfelten Klamotten kommt auf dem Mountainbike daher. Hans nennt er sich, „mehr von meinem Namen brauchst net“. Aber wieso radelt er? „Was soll ich machen?“, sagt er: „Auto hab ich keins und einkaufen muss ich, für meine Mama, die kann nicht mehr aus dem Haus.“ Schnee sagt er, sei doch was Schönes; nur wenn ihm als Radfahrer „der ganze Mist von den nicht abgekehrten Geländewagen entgegenfliegt“, oder wenn ihm die Pflüge und die Fräsen „die ganze Scheiße“ um die Ohren hauen, dann könnt’ er aus der Haut fahren.

Den Bürgermeister aber freut’s. „Es ist so schön zu sehen, wenn die Arbeiten funktionieren; das macht Spaß“, sagt Franz Schnitzenbaumer. „Die Leute von unserem Bauhof, die arbeiten jeden Tag ab drei Uhr morgens, und bei den Bauern rundherum haben wir alles mobilisiert, was Traktoren und Pflüge und Fräsen hat.“

Und was passiert in den nächsten Tagen? Diese zunehmend bange Frage stellen sich alle im bayerischen Oberland. Schon fünf Landkreise haben den Katastrophenfall ausgerufen. Und auf dem Weg Richtung Alpen befindet sich laut Vorhersagen jetzt auch noch „ein recht komplexes Wettergeschehen“. Am Samstagabend soll es losgehen. Hilfskräfte, auch Bundeswehr, sind schon auf dem Weg ins Oberland.

Einstweilen aber scheint noch die Sonne. Der Schnee glänzt und blendet – und vor dem Schlierseer Kindergarten tollen voller Freude gut zwanzig Zwerge herum. Gibt es was Schöneres als ein Schneechaos?

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Erstellt:
12. Januar 2019, 03:14 Uhr

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