Schüler mit Flüchtlingspolitik konfrontiert

Ein Lehrer hat zum zweiten Mal in Kooperation mit dem Arbeitskreis Asyl in Backnang die Ausstellung „Grenzerfahrungen“ ins berufliche Schulzentrum geholt. Die Schüler können sich dadurch kritisch dem komplexen und aktuellen Thema der Flüchtlingspolitik nähern.

Emotionen und Informationen: Im beruflichen Schulzentrum schauen sich Schüler die Ausstellung „Grenzerfahrungen“ an. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Emotionen und Informationen: Im beruflichen Schulzentrum schauen sich Schüler die Ausstellung „Grenzerfahrungen“ an. Foto: A. Becher

Von Anja La Roche

Backnang. Michael Jungerth und Petra Schleweck stehen mit ihren Schülern bereit. 16 Plakate sind im Foyer des beruflichen Schulzentrums aufgestellt. „In Syrien habe ich nur noch tote Freunde“, steht auf einem der Plakate, im Hintergrund ist ein Foto zu sehen, das einen Angriff auf die syrische Stadt Aleppo im Jahr 2016 zeigt. Die Ausstellung „Grenzerfahrungen – Wie Europa gegen Schutzsuchende aufrüstet“ will Missstände in der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union (EU) aufzeigen. Michael Jungerth, der Religion und Gemeinschaftskunde an der Eduard-Breuninger-Schule unterrichtet, hat die Ausstellung für diese Woche ins berufliche Schulzentrum geholt. Sie wurde unter anderem von Pro Asyl konzipiert und wird außerdem kommende Woche in der Christkönigskirche in Backnang ausgestellt (siehe Infokasten).

Viele der heute anwesenden Schüler haben sich – obwohl die meisten bereits etwa 19 und 20 Jahre alt sind – noch nie mit dem Thema Flüchtlingspolitik beschäftigt. Und auch das Thema Menschenrechte sei für viele fern. Der Krieg in der Ukraine hat das in den vergangenen Tagen allerdings verändert. „Es wird einem bewusst, dass man in der gleichen Situation stecken könnte“, sagt die Schülerin Vanessa mit Blick auf die ukrainischen Flüchtlinge. Und die beiden Lehrer bestätigen: Die Ausstellung kommt zur richtigen Zeit. In den Faschingsferien seien die Schüler mit den Bildern aus dem Kriegsgebiet konfrontiert gewesen, jetzt bestehe großer Gesprächsbedarf.

Die Reaktionen der Schüler sind

je nach Bildungsniveau verschieden

Gewalt, religiöse Verfolgung, Krieg, Folter, Terror – es gibt viele Ursachen dafür, dass eine Person ihren Heimatstaat verlassen muss. Die Plakatausstellung, die Josef Klein vom Arbeitskreis Asyl zur Verfügung stellt, klärt die Schüler mit vielen Informationen auf. „Je nach Bildungsniveau und Klassenstufe sind die Reaktionen anders“, sagt Michael Jungerth. Bei manchen sei das Interesse da, bei vielen aber auch nicht. Die Schüler am heutigen Tag scheinen interessiert. „Welches Menschenrecht ist euch besonders wichtig?“, fragt Jungerth sie. Freiheit, Gleichheit, Würde: Die Antworten zeigen, dass die Schüler bereits gut vorbereitet sind. „Mir ist wichtig, die Menschenrechte ins Bewusstsein der Schüler zu rücken“, erklärt Jungerth. Denn bei diesem Thema erlebe er viel Schulterzucken; viele würden ihre eigenen Rechte nicht kennen.

In Kleingruppen und mit Arbeitsblättern bewaffnet machen sich die Schulklassen dann an die Plakate der Ausstellung – und die haben es in sich. Sie sind mit einer Fülle von happigen Informationen gespickt, welche die Schattenseiten der EU-Flüchtlingspolitik aufzeigen. „Europa bricht das Völkerrecht“ lautet ein Titel, „Abschottung und Aufrüstung“ ein anderer. Der Verein Pro Asyl, welcher sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt, möchte aufzeigen: Die EU hat sich bei der Flüchtlingsabwehr mittlerweile von den eigenen menschenrechtlichen Grundsätzen entfernt. Sie wälzt Flüchtlinge auf fragwürdige Drittstaaten ab und schottet die EU zunehmend ab, indem sie die Grenzen aufrüstet und überwacht. Die Kernaussage ist klar: Der Kurs der EU sei falsch, denn er missachte Menschenrechte und breche dadurch mit dem Völkerrecht sowie der Genfer Flüchtlingskonvention. Letztere sichert die Rechte von Asylberechtigten im schutzgebenden Staat.

Bei der Thematik kommt es zu Diskussionen in den Schulklassen

Michael Jungerth und Petra Schleweck ist dabei die Komplexität des Themas bewusst. Ihr Ziel ist es nicht, den Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Meinung vorzugeben. Die beiden Lehrer wollen vielmehr, dass ihre Schüler sich mit dem Thema auseinandersetzen, um sich dann eine eigene Meinung bilden zu können. Denn zu oft würden sie in den Klassenzimmern sogenannte Stammtischparolen zu Ohren bekommen. „Wenn man dann nachfragt, mit welcher Begründung der Schüler seine Meinung vorträgt, fehlen meistens die Argumente“, so Jungerth. Von einem Beispiel aus dem Unterricht erzählt die Religionslehrerin Schleweck: „Ein Schüler meinte, er würde gar keine Flüchtlinge aufnehmen - die Flüchtlinge aus der Ukraine allerdings schon.“ Solche rassistischen Einstellungen zu hinterfragen und zu reflektieren ist daher ebenfalls Ziel der Lehrer, welche die Ausstellung mit ihren Schulklassen besuchen.

Und aus einem weiteren Grund ist es den Lehrern wichtig, die Thematik an ihre Schüler heranzutragen: Sie ist Teil der Lebensrealität vieler Schüler, die selbst flüchten mussten und Menschenrechtsverletzungen am eigenen Leib erfahren haben. „Ich habe zum Beispiel einen syrischen Schüler, der vor zwei Jahren hierher geflüchtet ist“, sagt Schleweck. Dieser habe sehr betroffen reagiert, als sie Menschenrechte und Migrationsbewegungen im Unterricht thematisierte.

Die Lebensrealitäten der anwesenden Schüler klaffen hier weit auseinander: Manche haben in ihrem Alltag Kontakt mit Geflüchteten. „Wenn man geflüchtete Freunde hat, wird man empathischer“, sagt etwa der Schüler Mertcan. Andere wiederum sind nun zum ersten Mal mit dem Leid konfrontiert, das den Tausenden Flüchtlingen tagtäglich widerfährt – durch die Ausstellung, aber auch durch die aktuellen Berichte über den Krieg in der Ukraine.

Für die Schüler im beruflichen Schulzentrum ist es klar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch nach der Ausstellung wird dem einen oder anderen vermutlich bewusst sein, dass die Realität anders aussieht. Zwar offenbart sich gerade große europäische Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen, doch zeigte die EU in den vergangenen Jahren ganz andere Seiten. Tim, einer der Schüler, hat da bereits ein Fazit für sich gezogen: „Ich finde die Flüchtlingspolitik der EU falsch.“ Er wünscht sich weniger Hürden für Schutzsuchende. Doch dieser Wunsch werde wohl nicht in Erfüllung gehen, so die Prognosen von Pro Asyl. Aktuell laufen Absprachen in der EU, um ein neues Paket zu Asyl und Migration zu verabschieden. Dieser „New Pact on Migration and Asylum“ nehme durch eine Vielzahl von Hürden vielen Schutzsuchenden faktisch das Recht auf Asyl.

Informationen zur Ausstellung Der Verein Pro Asyl konzipierte die Plakatausstellung „Grenzerfahrungen – Wie Europa gegen Schutzsuchende aufrüstet“ gemeinsam mit der katholischen Friedensbewegung Pax Christi und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Kriegsdienstverweigerung und Frieden. In der Christkönigskirche wird die Ausstellung am 12. März um 17 Uhr eröffnet. Bis 20. März kann man sich dort die Plakate anschauen. Unter www.grenz-erfahrungen.de sind die Plakate allerdings auch online zu sehen.

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Erstellt:
10. März 2022, 06:00 Uhr

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