In der Schuldenfalle
Schuldnerin: „Die Anonymen Schuldner haben mein Leben gerettet.“
Fünfeinhalb Millionen Menschen waren 2023 in Deutschland verschuldet. Die Gründe sind vielfältig. Bei Annegret Berger ist es ihre Kaufsucht, mit der sie ein Leben lang kämpft. Eine sehr persönliche Geschichte übers Schuldenmachen.
Von Julika Wolf
Zum ersten Mal hat Annegret Berger Probleme mit Geld, als sie fürs Studium von zuhause auszieht. Jeden Monat bekommt sie Geld von ihrer Mutter, arbeitet nebenher ein wenig, außerdem hat sie ein Erbe. Trotzdem gerät sie ins Minus, als sie in den Zwanzigern ist. Sie gibt ihr Geld für Schallplatten, Bücher, Kleidung aus – „für alles, was ich wollte“, sagt sie. Doch sie übertreibt, kauft immer mehr. Mit dem Konsum will sie ein Loch stopfen, das sich so nicht stopfen lässt. „Das machen sicherlich viele so“, sagt sie. Bei ihr geht es so lange weiter, bis sie ihre Miete nicht mehr bezahlen kann.
Heute, mit Mitte 60, sagt sie, dass sie kaufsüchtig ist. Sie blickt inzwischen mit anderen Augen auf ihr Leben. Das hat sie durch die Anonymen Schuldner („Debtors Anonymous“, kurz DA) gelernt, einer Gruppe von Betroffenen, die sich gegenseitig bei der Genesung vom zwanghaften Schuldenmachen hilft. Sie arbeitet selbstständig in einem Job, den sie nicht nennt. Eigentlich heißt Annegret Berger auch anders. Wo sie wohnt, wie alt sie ist, das alles bleibt geheim. Bei den DA steht Anonymität an allererster Stelle.
Auch die Geburt eines Kindes kann Menschen in Schulden stürzen
Mit ihren Geldproblemen ist Annegret Berger nicht alleine. 5,65 Millionen Privatpersonen sind im vergangenen Jahr in Deutschland verschuldet gewesen. Die Gründe dafür sind vielfältig, sagt Sandra Meyer, Fachdienstleitung der Zentralen Schuldnerberatung Stuttgart. Die Beratungsstelle hilft Betroffenen kostenlos, unterstützt sie bei Existenzbedrohung mit Soforthilfe und arbeitet präventiv gegen das Schuldenmachen an. Meyers Erfahrung nach können Krankheit, Trennung, aber auch die Geburt eines Kindes die finanzielle Lage aus dem Gleichgewicht bringen. Ereignisse eben, die Einbußen im Einkommen auslösen, während das Haus oder das Auto weiter abbezahlt werden müssen.
Im Fall von Annegret Berger ist es das Suchtverhalten, das ihr zum Verhängnis wird. Sie gibt immer mehr Geld aus, als sie hat. Irgendwann sucht sie sich Hilfe bei den DA. Dort lernt sie, Verantwortung zu übernehmen. Und sie lernt, was echte Bedürfnisse sind, für die sie Geld ausgeben darf. „Das war unglaublich befreiend“, sagt sie. Ihre Ausgaben teilt sie in Kategorien ein, kalkuliert, was sie jeden Monat braucht. Sie merkt, dass sie Geld hat. Kurz scheint es, als ob alles besser wäre.
Doch dann kommen Erinnerungen aus der Kindheit hoch. Es geht ihr schlecht, sie braucht eine Pause, kündigt ihren Job. Das Erbe erlaubt es ihr. So geht es Annegret Berger immer wieder. Eine Zeit lang arbeitet sie, dann kommt ein Schicksalsschlag. Sie geht zu den DA, berappelt sich, dann hört sie wieder auf. „Irgendwie war ich auch Arbeitsverweigerin“, sagt sie. Damals denkt sie, sie sei nicht gut genug in ihrem Job. Sie will darin nicht weiterarbeiten. So richtig erklären kann sie sich das selbst nicht. „Eigenwille ist bei Süchtigen tödlich“, sagt sie.
Irgendwann ist das Erbe aufgebraucht. Ohne das kann sie ihre Miete nicht bezahlen. Heute sagt sie, sie hätte die Realität komplett ausgeblendet. Das liege an der Sucht. „Ich hab ja längst gesehen, dass das Geld ausgeht“, sagt sie. Aber in dem Moment kann sie einfach nichts dagegen tun. Um über die Runden zu kommen, leiht Annegret Berger sich Geld bei einer Freundin.
Auch das machen laut Sandra Meyer viele. Sie versuchen, Löcher zu stopfen, erst dann holen sie sich Hilfe bei der Schuldnerberatung. „Meistens ist es da schon sehr spät“, sagt Sandra Meyer. „Viele haben Schwierigkeiten, sich Hilfe zu holen, weil man doch irgendwo gescheitert ist.“ Jeder gehe schließlich Verbindlichkeiten ein in der Annahme, dass er sie auch abbezahlen kann. Auch für Annegret Berger ist die Scham groß, dass sie das einfach nicht hinbekommt mit dem Geld. Ihr Umfeld lässt sie nie ganz wissen, wie es ihr geht.
Als sie sich das Geld von ihrer Freundin leiht, geht es ihr so schlecht wie nie. Besonders viel ist es nicht, sie spricht von 3000 DM. Trotzdem ist es ihr Tiefpunkt. Das Konto zu überziehen, ist das eine – Schulden bei anderen Menschen zu haben, ist für sie etwas ganz anderes. Sie hat Existenzängste, sogar Suizidgedanken.
Sie muss sich eingestehen, dass sie ihrer Sucht gegenüber machtlos ist
Was sie letztlich aus ihrer Lage herauszieht, ist das Zwölf-Schritte-Programm der DA, mit dem auch andere Suchterkrankte arbeiten. Der erste Schritt: Kapitulation. Sie muss sich eingestehen, dass sie ihrer Sucht gegenüber machtlos ist, und in eine höhere Macht vertrauen. So arbeitet sie sich zurück ins Leben. Sie ist bereit, wieder zu arbeiten, findet zurück zu ihrem ursprünglichen, erlernten Job. „Die DA haben mein Leben gerettet“, sagt sie.
Deshalb gibt sie dort inzwischen auch ihre Lebensgeschichte weiter, um anderen Betroffenen zu helfen. Seit sieben Jahren ist sie nun wieder voll zahlungsfähig. Sie lebt von ihrem Verdienst als Selbstständige. Und ein bisschen von ihrer Rente – einer kleinen Rente, denn eingezahlt hat sie lange Zeit nichts. „Ich kann von der Rente nicht leben, aber ich habe inzwischen so viel Vertrauen, dass ich weiß: Es gibt Lösungen“, sagt sie.
Was Annegret Berger vielleicht geholfen hätte: Wenn sie von der Jugend an gelernt hätte, richtig zu wirtschaften. Deshalb fordert Sandra Meyer mehr Bildung in dem Bereich – und, weil man in der Gesellschaft insgesamt ungern über Geld spricht. „Schon Jugendliche müssen lernen, mit Finanzen umzugehen“, sagt sie. Welche Versicherungen braucht man, was ist Warm- und Kaltmiete, wie funktioniert ein Girokonto – solche Fragen müssten früh beantwortet werden. Sonst könnten Jugendliche schnell in Schieflage geraten, sagt Sandra Meyer.
Wo Betroffene Hilfe bekommen können
Zentrale Schuldnerberatung StuttgartDie Beratung ist für Menschen da, die nicht nur verschuldet, sondern überschuldet sind. 2544 Anfragen wurden 2023 über die telefonische Sprechzeit an sie gestellt. Wessen Existenz unmittelbar bedroht ist, bekommt sofort Hilfe etwa durch ein Pfändungsschutzkonto. 445 solcher Fälle gab es im vergangenen Jahr. 736 Menschen meldeten sich zur weiterführenden Beratung an. Sandra Meyer würde sich wünschen, dass besser über Finanzen informiert werden. Hilfreich findet sie, dass Überschuldete sich seit 2021 innerhalb von drei Jahren von ihren Schulden befreien können – zuvor waren es bis zu sechs Jahre gewesen. Dass die Perspektive auf Schuldenfreiheit greifbarer ist, begrüßt die Beratungsstelle außerordentlich.
Anonyme SchuldnerIn der Selbsthilfegruppe treffen sich Betroffene, um sich gegenseitig aus der Schuldenspirale zu helfen. Dabei werden die Zwölf Schritte angewendet, die auch bei Gruppen wie den Anonymen Alkoholikern genutzt werden. Die Gruppe hält Meetings ab, stellt Ausgabenpläne auf, stellt Betroffenen sogenannte Sponsoren (etwa Paten) zur Seite und vieles mehr. Die Gemeinschaft finanziert sich durch Mitgliederspenden. Auch in Stuttgart trifft sich eine Gruppe wöchentlich.