Schwarzstorch auf Stadtausflug in Murrhardt

In den Tagen zwischen Ende September und Mitte Oktober hat sich ein Jungvogel in Straßenzügen und Gärten Murrhardts blicken lassen. Normalerweise leben die scheuen Vögel sehr zurückgezogen im Wald und machen sich dieser Tage auf die Reise in den Süden.

Der scheue und seltene Gast auf Futtersuche in der Nähe eines Bachlaufs. Foto: Lisa-Marie Gleich

Der scheue und seltene Gast auf Futtersuche in der Nähe eines Bachlaufs. Foto: Lisa-Marie Gleich

Von Christine Schick

Murrhardt. Es sind gleich mehrere Murrhardterinnen und Murrhardter, die den majestätischen Vogel am Siedlungsrand oder in der Stadt zu Gesicht bekommen und von der Begegnung berichten. Heinz Kübler schnappt sich als leidenschaftlicher Fotograf sofort seine Kamera, als ihn eine Nachbarin auf den ungewöhnlichen Gast aufmerksam macht. Der Schwarzstorch steht erst auf einer Wiese nahe der Schellingstraße, dann fliegt er in der Karlstraße auf ein Dach, um zu rasten. Wenn es sich um ein und denselben Vogel handelt, so wird er noch an weiteren Tagen und Orten gesichtet – beispielsweise an einem Bachlauf, nahe eines Gartenteichs und über eine Terrasse am südlichen Stadtrand stolzierend. Klar, dass bei solch einem seltenen und ungewöhnlichen Gast sofort Fragen aufploppen. „Ist er auf der Durchreise? Oder hier geboren?“, überlegt Barbara Noller und freut sich über den Besucher und die Tatsache, dass die Natur in Murrhardt und Umgebung noch zum Rasten einlädt. Gerhard Erchinger glaubt nicht, dass der Schwarzstorch in seinem Teich, in dem es nur Goldfische gibt, etwas gefangen hat, und er ist fasziniert, wie das Tier in aller Ruhe sein Gefieder putzt und sich aufmerksam umschaut.

Der Vogel schaut sich sogar auf einer Terrasse am südlichen Stadtrand um. Foto: Dieter Seitz

Der Vogel schaut sich sogar auf einer Terrasse am südlichen Stadtrand um. Foto: Dieter Seitz

Erchinger kontaktiert Hartmann Widmaier, den Vorsitzenden des Murrhardter Nabu-Ortsvereins. Der stellt anhand der Fotos fest, dass es sich um einen Jungvogel handelt, weil das Tier noch keinen roten Schnabel hat. Nach seiner Einschätzung gibt es schon seit etwa 25 Jahren Schwarzstörche in den ausgedehnten Wäldern des Naturparks. Er freut sich über den Gast, kann dieser doch ein Hinweis darauf sein, dass die Vögel hier regelmäßig brüten und auch Erfolg haben. Aber es verwundert Hartmann Widmaier auch, dass sich der Youngster so nah den Siedlungsbereich wagt und das noch Mitte Oktober, wo er eigentlich schon über die Alpen in südlicheren Gefilden sein sollte. „Ja, der Schwarzstorch siedelt heimlich, still und leise in unserer Gegend“, sagt Peter Wilz. Dem ehemaligen Biologielehrer und Naturfreund ist es vor allem wichtig, dass der Schwarzstorch das auch weiterhin tun kann und nicht gestört und insofern auch möglichst wenig Rummel um ihn gemacht wird. Zugenommen haben mit der Siedlungsdichte auch die Begegnungen von Menschen und Wildtieren. Aber für Meister Adebar weitaus gefährlicher hält er den Waschbären, der sich über die Eier im Gelege hermacht.

Der Schwarzstorch ist scheu, aber in der Zugzeit schon mal kühner auf Futtersuche

Als eine Nachbarin von Dieter Seitz, Revierförster in Murrhardt, Bescheid gibt, dass bei ihr ein ungewöhnlicher Zaungast aufgetaucht sei, und nach draußen schaut, ist für ihn schnell klar: Ein junger Schwarzstorch, der sich auch von weiter entfernt erkennen lässt, weil er sich – ganz anders als ein Graureiher – fast senkrecht in die Höhe heben kann. Natürlich sei der scheue Vogel eher im Wald unterwegs, aber vielleicht habe er sich an einem ruhigen, verregneten Tag eben auf Futtersuche in dem einen oder anderen Teich in die Stadt vorgewagt.

Ganz ähnlich schätzt das Stefan Bosch, Fachbeauftragter für Ornithologie und Vogelschutz beim Nabu-Landesverband, ein. Störungen durch Wanderer oder Forstarbeiten können während der Brutzeit und in der Nähe des Nestes katastrophale Folgen für die scheuen Tiere haben. „Aber nun während der Zugzeit ist es nicht ausgeschlossen, dass Schwarzstörche auch in der Nähe des Menschen rasten oder Nahrung suchen. Ich konnte das auch schon beobachten“, erläutert er. Stefan Bosch merkt noch an, dass – sollte das Verhalten allzu zutraulich ausfallen – man auch an einen Gefangenschaftsflüchtling, beispielsweise aus einer Zoohaltung, denken muss.

Schwarzstörche überwintern in Westafrika und Spanien

„Manchmal schließen sich Schwarzstörche aber auch den uns Menschen zugewandteren Weißstörchen an und ziehen mit ihnen gemeinsam.“ Das Zeitfenster für den Flug nach Süden passt, es reiche von September bis zur ersten Oktoberhälfte. „Oft reisen Jungvögel aus Tschechien und Polen bei uns im Südwesten durch.“ Schwarzstörche überwintern nach seinen Informationen in Westafrika, im Sahel, aber auch zunehmend in Spanien.

Und wenn das Jungtier den Abflug nicht schafft? Könnte er bei den mittlerweile milderen Klimabedingungen sogar im Schwäbisch-Fränkischen Wald überwintern? Bosch rechnet dem Beobachteten noch beste Chancen aus, die Reise zu absolvieren. Zwar gibt es Hinweise, dass Schwarzstörche auch in Deutschland erfolgreich überwintern, aber es bleibt ein Risiko. Im Falle eines harten Winters nicht durchzukommen steht gegen die Chance im Frühjahr, sich ein gutes Brutrevier zu sichern, bevor die Konkurrenz zurückkehrt. Hat Meister Adebar die Reise oder riskante Überwinterung geschafft und sich erfolgreich für ein Nachwuchsprojekt aufgestellt, muss das aber noch gegen verschiedene Beutegreifer wie Waschbären bestehen. „Bei bekannten Brutplätzen kann es Sinn machen, Blechmanschetten am unteren Stamm gegen kletternde Beutegreifer anzubringen. Allerdings müssten auch die Nachbarbäume einbezogen werden, da ein Überspringen von Baum zu Baum möglich ist.“ Stefan Bosch macht aber auch klar, dass es da keinen 100-prozentigen Schutz gibt und es wichtig ist, solche Maßnahmen nicht während der Balz- und Brutzeit anzugehen, die dann das Gegenteil bewirken können und den Fortbestand gefährden.

Der Naturschutzbund (Nabu) geht von derzeit 30 bis 50 Schwarzstorchpaaren in Baden-Württemberg aus

Verbreitung Schwarzstörche kommen hauptsächlich in der Mitte Deutschlands vor. Im Nordosten und Südwesten sind sie eher seltene Brutvögel, erläutert Stefan Bosch zur generellen Einschätzung des Bestands. In Baden-Württemberg brüten Schwarzstörche seit etwa 20 Jahren wieder, die meisten in Oberschwaben, wenige auch im Stromberg und im Schwäbisch-Fränkischen und Mainhardter Wald. In diesen Regionen brauchen Schwarzstörche ausgedehnte, ungestörte Waldgebiete mit feuchten Altholzbeständen. Man geht derzeit von 30 bis 50 Paaren im Land und 800 bis 900 Paaren in Deutschland aus. Der Nabu setzt sich für naturnahe, artenreiche Wälder und kleine Feuchtgebiete ein und seit Jahrzehnten für die Entschärfung von Mittelspannungsmasten, an denen immer wieder junge Schwarzstörche verunglücken, so Bosch.

Rückkehrhilfen Bundesweit gilt der Schwarzstorch als nicht gefährdet, in Baden-Württemberg dagegen schon. In der ganz aktuellen Roten Liste wird er als gefährdete Art geführt. Schwarzstörche waren von intensiver Verfolgung und intensiver Waldwirtschaft sowie Störungen durch Freizeitaktivitäten und Lebensraumzerstörungen stark betroffen. Ihr Bestand lag in den 1950er-Jahren zwischen zehn und 20 Paaren. Schutz vor Verfolgung, Biotopverbesserungen, konsequenter Nestschutz (Be-/Überwachung, Vermeiden von Störungen) und das Angebot von Nestplattformen führten in den Hauptverbreitungsgebieten zu einer Bestandszunahme und einer Ausweitung des Brutareales auf verwaiste Gebiete.

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Erstellt:
27. Oktober 2022, 11:30 Uhr

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