Tödlicher Unfall in Murrtal: Sicht auf Radlerin war für den Lkw-Fahrer versperrt
Nach einem tödlichen Unfall in Murrhardt im Juni 2022 wird jetzt ein Lkw-Fahrer (56) vom Amtsgericht Backnang wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Von Florian Muhl
Backnang/Murrhardt. Von einem „fürchterlichen und tragischen Unfall“ ist am Backnanger Amtsgericht gestern Nachmittag die Rede. Verhandelt wird über den erschütternden Vorfall, der sich am 24. Juni vergangenen Jahres in Murrhardt ereignet hat. Dabei war eine 64 Jahre alte Fahrradfahrerin im Harbach-Kreisverkehr bei einer Kollision mit einem Lkw tödlich verletzt worden. Auf der Anklagebank sitzt ein heute 56 Jahre alter Familienvater. Nach rund anderthalbstündiger Verhandlung wird der gelernte Koch zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils 50 Euro, insgesamt also 4.500 Euro, sowie drei Monaten Fahrverbot verurteilt.
Was an jenem Unglückstag genau geschehen ist, schildern der Staatsanwalt bei der Verlesung der Anklageschrift sowie der Berufskraftfahrer, der aus dem Kreis Schwäbisch Hall kommt. Der Angeklagte, der pro Jahr mit seinem Lkw zwischen 100.000 und 120.000 Kilometer auf Achse ist, fährt des Öfteren auf der Landesstraße 1066 von Sulzbach an der Murr nach Murrhardt und weiter. So auch am 24. Juni 2022. Der damals 55-Jährige nähert sich gegen 11.30 Uhr mit seinem 40-Tonner mit Tempo 30 dem Harbach-Kreisel und verlangsamt im Kreisel seine Fahrt. Die 64 Jahre alte Fahrradfahrerin, die sich in diesem Moment bereits im Kreisverkehr befindet und von links aus Richtung Gaisbühlweg/Harbacher Straße kommt, sieht er nicht, sagt er. Als er den Kreisel etwa ein Viertel umfahren hat, hört er komische Geräusche, die er sich nicht erklären kann. Er fährt mit seinem beladenen Holztransporter aus dem Kreisverkehr auf der L1066 in Richtung Murrhardt heraus, bleibt nach wenigen Metern stehen und erkennt jetzt erst, was geschehen war. Er war mit der Radlerin zusammengestoßen, die jetzt bewegungslos auf der Fahrbahn im Kreisverkehr liegt. Das Fahrrad, ein E-Bike, verklemmt sich unter dem Lkw. Er schleift es noch rund 30 Meter mit. Rettungskräfte sind wegen der nur Hundert Meter entfernten Notarztwache schnell zur Stelle. Doch die Frau erliegt noch am Unfallort ihren schweren Verletzungen. Der Kraftfahrer ist fassungslos und traumatisiert.
Ganze Fahrzeuge können durch A-Säule und Spiegel verschluckt werden
Der Sachverständige erläutert vor Gericht, wie es tatsächlich sein kann, dass der Angeklagte die Fahrradfahrerin nicht gesehen hat beziehungsweise nicht sehen konnte. Die relativ starke A-Säule sowie die Außenspiegel des 40-Tonners verdecken für den Fahrer nach vorne links – wie auch nach vorne rechts, für den Unfall aber nicht relevant – die Sicht. Es entsteht ein toter Winkel. Der Gutachter spricht von einem Kegel. Er hat mit dem Unfall-Lkw und Hilfsmitteln nachgemessen, wie groß dieser ist. „Der Kegel spannt sich immer weiter auf und ganze Fahrzeuge können so verschluckt werden“, lautet sein Fazit. Die Vermutung des Richters Marco Siever, dass der Unfall wohl nicht geschehen wäre, wenn der Lkw mit einem digitalen Spiegel ausgestattet gewesen wäre, der die Sicht für Lkw-Fahrer verbessert, bestätigt der Sachverständige.
Nach Auswertung des elektronischen Fahrzeugschreibers kann der Gutachter auch fast Meter genau sagen, mit welchem Tempo der Angeklagte mit seinem Holztransporter unterwegs war. Demnach hat sich der Angeklagte dem Kreisverkehr mit einer für Landstraßen üblichen Geschwindigkeit genähert. Mit etwa Tempo 30 sei der Lkw, ohne anzuhalten, in den Kreisel eingefahren. Eine genau definierte Kollisionsstelle konnte der Gutachter nicht ausmachen, aber einen Kollisionsbereich. Die Kollisionsgeschwindigkeit lag bei 20 und 30 Kilometern pro Stunde.
Das Auslesen der Daten des Antriebsstrangs des Pedelecs hat keine relevanten Daten geliefert, so der Gutachter. Die Langzeitdaten seien nicht auffällig gewesen. So geht er von einer normalen Fahrweise der Fahrradfahrerin aus und kommt zu dem Schluss: „Wenn die Radlerin mit einer Geschwindigkeit von 15 Kilometern pro Stunde fährt und der Lkw-Fahrer auf 20 bis 30 herunter bremst, dann befindet sich die Radlerin für den Lkw-Fahrer immer im Sichtschatten.“ Somit sei der Unfall für den Lkw-Fahrer nicht vermeidbar gewesen. Die Radfahrerin hätte die Kollision laut Gutachter nur verhindern können, wenn sie erkannt hätte, das der Holztransporter nicht anhält und sie selbst ihre Fahrt stoppt.
Der Lkw-Fahrer gilt nach dem Urteilsspruch als nicht vorbestraft
In seinem Plädoyer erkennt der Staatsanwalt an, dass es Konstellationen gibt, in dem eine Radlerin für einen Lkw-Fahrer im Abdeckungsfeld liegt. Auch wenn es in so einer Situation für einen 40-Tonner schwierig sei, vor dem Kreisel zum Stillstand zu kommen und dann wieder anzufahren, sei dies doch geboten. Er fordert eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu 50 Euro sowie ein Fahrverbot von drei Monaten.
Der Verteidiger des Angeklagten plädiert für einen Freispruch seines Mandanten. Sollte dies nicht möglich sein, für eine Geldstrafe von höchstens 90 Tagessätzen und für ein einmonatiges Fahrverbot.
Letztlich bleibt der Richter bei seinem Urteil bei der magischen Grenze von 90 Tagessätzen, wie er sagt. Denn bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen gilt man nicht als vorbestraft. Bei einer Tagessatzanzahl von mehr als 90 Tagessätzen ist eine Vorstrafe gegeben.