Stadtrat Mustafa Gül spricht über den Islam und die Grünen
Turmgespräche Mustafa Gül ist stellvertretender Vorstand der Türkisch-Islamischen Gemeinde Backnang und Stadtrat. Er erzählt, was seine Partei (Grüne) und der Islam gemeinsam haben und wie er als Deutschtürke hier aufgewachsen ist.
Herr Gül, Sie sind nicht nur Stadtrat für die Grünen im Gemeinderat Backnang, sondern auch stellvertretender Vorsitzender bei der Türkisch-Islamischen Gemeinde Backnang (TIGB). Was bedeutet Ihnen denn der Glaube?
Der Glaube gehört für mich zum alltäglichen Leben und ich versuche ihn, so gut es auch in Deutschland geht, zu leben.
Würden Sie sagen, dass Sie streng religiös erzogen wurden?
Ich würde es mal so sagen: Ich wurde so erzogen, dass mir die religiösen Werte, wie Ehrlichkeit, Toleranz, Respekt und die Pflichten wie Fasten und Gebet übermittelt wurden. Nein, nicht streng religiös. Das Fasten und die Gebete versuche ich einzuhalten. Ich versuche in meinem Leben die Werte, die unsere Religion hat, rüberzubringen, anderen Leuten Respekt entgegenzubringen, auch Respekt vor anderen Religionen. Das ist das Wichtigste, glaube ich.
Ich habe den Muezzinruf in Backnang noch nie gehört. Woran liegt das?
In Backnang haben wir keine Erlaubnis von der Stadt. Ich würde da jetzt auch keine beantragen. Wir haben nicht die Räumlichkeiten, die das hergeben würden.
Was bräuchte es da an Räumlichkeiten?
Ein Gebetshaus, wo vielleicht ein Minarett dabei wäre, wäre nicht schlecht. Es sollte auch nach außen sichtbar sein, dass es eine Moschee ist, das ist aktuell nicht der Fall. Aber klar, manche in der Gemeinde würden das gerne sehen, wenn der Gebetsruf auch nach außen geht. Ich für meinen Teil muss das nicht haben.
Wie kam es dazu, dass Sie stellvertretender Vorstand in der Gemeinde geworden sind?
Ich war schon mal im Vorstand, als ich noch in der Ausbildung war. Aber da ich damals Jugendlicher war, hat es mich nicht so sehr interessiert. Man muss dafür einfach ein Faible haben. Und dieses Faible habe ich später entwickelt. 2002, als ich von Bad Cannstatt zurück nach Backnang gezogen bin und über einen Freund zum Integrationsrat gekommen bin, bin ich zusätzlich gefragt worden, ob ich im Vorstand vom Verein tätig werden will.
Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Ich habe gerade über den Integrationsrat gemerkt, dass der Dialog in Richtung deutsche Gesellschaft fehlt – vor allem mit der Stadt und den Kirchen. Mit meinem Freund, Mustafa Güngör, haben wir den Dialog zu den Kirchen und der Stadt gesucht. Wir haben sie zu unseren Veranstaltungen, wie dem Fastenbrechen und dem Tag der offenen Tür eingeladen. Ich glaube, in den letzten paar Jahren ist da wirklich etwas entstanden. Wir werden jetzt auch wahrgenommen und gesehen in der Gesellschaft und bei der Stadt.
Wie sehen Sie die breite Unterstützung für Erdoğan in der Gemeinde?
Wir bei uns in der Gemeinde versuchen, im Gebetshaus die Politik außen vor zu lassen. Da wir in einer Demokratie leben, kann jeder anhängen, wem er will. Wir werden deswegen niemanden aus der Gemeinde ausstoßen. Der Imam ist auch dazu verpflichtet, sich neutral zu stellen. Wir schreiten erst als Vorstand ein, wenn wir merken, dass zu viel politisch diskutiert wird.
Inwieweit fungiert die TIGB als wichtige Säule der Gesellschaft?
Man braucht bloß freitags mal zu kommen, dann sieht man das. Bei den Freitagsgebeten sind aktuell fast 30 Prozent nicht türkische Personen da. Wir haben aktuell sehr viele Flüchtlinge, sehr viele Zugezogene aus anderen Ländern, die Moslems sind. Und da merkt man, dass wir eine Stütze für sie sind. Sie können immer für ihr Gebet kommen und unsere Tür ist 24 Stunden, sieben Tage die Woche auf.
Sind Sie als Deutschtürke mal mit Vorbehalten konfrontiert worden?
Ich habe selber nie Probleme gehabt, egal ob es in der Schule, nach der Ausbildung oder in der Firma war. Nur einmal im Fußball, das war eine kurze Zeit. Vom Trainerteam wurde ich ein bisschen mehr aufgezogen. Bestimmte Sprüche, die normalerweise für mich links rein, rechts rausgehen, haben mich ein bisschen gestört, muss ich ehrlich sagen. Ansonsten im Backnanger Raum unter Freunden und Bekannten gar nichts. Erst nachdem ich verheiratet war, die Kinder auf der Welt waren, haben wir ein paar Dinge erlebt, die nicht so toll waren, aus der Nachbarschaft. Wenn man dann aus dem Fenster hört „Ich will keine schwarzen Haare sehen“, muss man sich schon wundern.
Würden Sie sagen, in Sachen Vorurteile hat sich etwas verändert über die vergangenen Jahre?
Was sich vielleicht verändert hat: Das, was früher eher hinter dem Rücken war, wird jetzt offener kommuniziert. Backnang war schon immer ein bisschen konservativ. Ich weiß das, weil meine Frau aus der Bodenseegegend kommt und als ich ihr gesagt habe, dass man hier länger nach einer Wohnung suchen muss, vor allem als Türke, war sie überrascht, weil sie das im Backnanger Raum nicht erwartet hat.
Wie passt der Islam zu den liberalen Einstellungen Ihrer Partei, den Grünen? Zum Beispiel bei dem Thema queer sein oder bei der Gleichstellung der Frauen?
Queer sein ist ein schwieriges Thema, weil im Islam, genauso wie in der christlichen Religion, eine bestimmte Vorstellung von Familie besteht. Gleichstellung der Frau ist eigentlich im Islam drin. Man muss es nur so leben. Ansonsten überschneiden sich viele Punkte wie Nachhaltigkeit und ressourcenschonend leben. Es gibt sehr viel Toleranz, auch wenn man den Islam viel mit Terror in Verbindung bringt, aber der Islam – Islam heißt Frieden – ist eigentlich eine tolerante Religion, auch gegenüber Menschen anderen Glaubens.
Inwiefern kommt der Gedanke des Umweltschutzes im Koran vor?
In den Suren (Anm. d. Red.: Suren sind die Kapitel im Koran) kommt es vor, dass man nachhaltig und ressourcenschonend leben soll. Man soll kein Wasser oder Essen verschwenden, Tiere nur schlachten, wenn man etwas zu essen braucht, und Früchte nur essen, wenn sie reif sind. Diese Suren sind vorhanden und das müsste eigentlich jeden von uns prägen. Das ist aber kaum der Fall. Ich sehe es als negativ an, auch in unserem Kulturkreis oder bei unseren Landsleuten: Wir verschwenden viel zu viel.
Versuchen Sie, das Ansinnen Naturschutz auch in der Türkisch-Islamischen Gemeinde einzubringen?
Ja, in allem, was wir tun, versuchen wir nachhaltig zu agieren. Bei unseren Festen etwa versuchen wir, kein Plastik zu verwenden. Das kam in den letzten Jahren auf und im Vorstand herrscht Einigkeit darüber, dass wir das vorantreiben müssen.
Das Gespräch führte Anja La Roche.
Infotext: Blick vom Turm
Vita Mustafa Gül wurde 1969 in Kaymakli (Kappadokien) in der Türkei geboren. Seit 1971 wohnt er in der Nähe von beziehungsweise direkt in Backnang, nur vier Jahre davon hat er in Stuttgart-Bad Cannstatt gewohnt. Zunächst hatte Gül eine Ausbildung zum Funkelektroniker absolviert. Nach seinem fachgebundenen Abitur hat er sein Diplom in Nachrichtentechnik gemacht. Seit 2005 ist er als Entwicklungsingenieur bei Bosch tätig. Im Gemeinderat Backnang ist er seit November 2020 als Stadtrat aktiv. Zudem ist er stellvertretender Vorstand bei der Türkisch-Islamischen Gemeinde Backnang (TIGB) und der TSG Backnang Schwimmen. Er ist verheiratet und hat zwei bereits erwachsene Kinder.
Moschee Wenn Gül seinen Blick vom Stadtturm über Backnang schweifen lässt, kann er die jetzigen Räumlichkeiten der Moschee nur grob verorten – immerhin ist das Gebäude in der Wilhelmstraße nicht besonders auffällig, wie man es vielleicht von anderen Moscheen kennt. Gül erinnert sich noch an die Zeit, als sich die ersten Räume der TIGB in einer Zweizimmerwohnung in der Sulzbacher Straße befunden haben. Anschließend waren die Gebetsräume unter anderem in der Fabrikstraße untergebracht. 1992 kaufte der Verein das jetzige Gebäude in der Wilhelmstraße.
Jugend Vom Turm aus besonders ins Auge sticht Gül die nahe gelegene Schillerschule , ein Ort seiner Kindheit in Backnang. Aber auch das Etzwiesenstadion, wenn auch vom Turm etwas schwieriger zu erblicken, kommt dem Stadtrat sogleich in den Sinn. Dort hat er viele Jahre im Verein der TSG Backnang gespielt.