Stuttgart steht an der Seite Israels
Am ersten Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel wird der Opfer gedacht und Solidarität bekundet, aber auch der erstarkte Antisemitismus thematisiert.
Von Jan Sellner
Stuttgart - Es ist, als säße man in einer Zeitmaschine. Der mit einigen Hundert Menschen gefüllte Marktplatz, die Fahnen Israels und der iranischen Opposition, die Namen der Redner – all das erinnert an die Kundgebung, die von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft am 9. Oktober 2023 organisiert worden ist, zwei Tage nach dem Angriff der terroristischen Hamas auf Israel. Nur das Wetter ist an diesem Montag anders – es regnet in Strömen. „Der da oben weint“, sagt eine Teilnehmerin leise.
Der Schmerz über das Ungeheuerliche, „den schlimmsten Angriff auf jüdisches Leben seit der Schoah“, er ist bei den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und den Menschen, die sich mit ihr solidarisieren, unverändert zu spüren. Doch es ist noch etwas hinzugekommen: die Enttäuschung über schwindende Empathie, schlimmer noch, über Hass und Antisemitismus, der Juden in Deutschland entgegenschlägt. Stuttgart ist davon nicht ausgenommen.
Einer, der dies couragiert artikuliert, ist Alon Bindes von der Jüdischen Studierendenunion Württemberg. Seine Stimme gehörte schon vor einem Jahr zu den eindrücklichsten. Jetzt spricht er wieder und macht aus seiner Verletzung keinen Hehl. Der gebürtige Stuttgarter, dessen Eltern aus Polen und Israel stammen, beklagt „antisemitische Hetze an Universitäten und auf den Straßen“, befeuert durch „Terrorpropaganda in den sozialen Netzwerken“.
„Wir werden das niemals hinnehmen“, ruft er entschlossen und spricht Selbstverständliches auch aus: „Jüdinnen und Juden sind, wenn auch nur klein an der Zahl, ein integraler Bestandteil der Geschichte, der Gegenwart und der Gesellschaft unseres Landes – der Bundesrepublik Deutschland.“ Wer Juden angreife, greife die demokratischen Grundwerte aller an. Dafür gibt es lauten Beifall.
Was Bindes ratlos zurücklässt: „Das alles wurde schon so oft gesagt. Was gibt es noch Neues zu sagen? Wir haben es in unseren Reden mehrfach wiederholt: die Trauer und die Erwartungen an Solidarität.“ Verhallt das einfach so?
Dieser Eindruck scheint in der jüdischen Gemeinde verbreitet, aber auch der Wille, die Stimme zu erheben und sich nicht zu verstecken. „Fear will loose“ steht auf einem Kapuzenpulli. Ein anderer Teilnehmer trägt ein Shirt mit der Aufschrift: „We will dance again. Supernova“. Es ist der Name des Musikfestivals, auf dem die Hamas vor einem Jahr wahllos Menschen ermordete. An diesem Abend auf dem Marktplatz fehlt es erkennbar nicht an der Solidarität mit den Menschen in Israel und mit der jüdischen Gemeinde in Württemberg, deren Synagoge im Hospitalviertel seit dem 7. Oktober rund um die Uhr von der Polizei geschützt wird. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) ist da, die Landtagsabgeordneten Christian Gehring (CDU) und Oliver Hildenbrand (Grüne) sowie Schulbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) und mehrere Stadträte.
Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft (IRGW), nimmt das erfreut zur Kenntnis, stellt jedoch auch fest, „dass die Unterstützung für Israel im vergangenen Jahr leider abgenommen hat“. Von Deutschland wünscht er sich moralische Unterstützung, denn Freunde unterstütze man, wenn sie einen brauchen. Zu Forderungen nach einem Waffenstillstand sagt er: „Es gibt morgen Frieden, wenn Hamas, Hisbollah und die anderen die Waffen niederlegen.“ Wenn umgekehrt Israel die Waffen niederlege, „gibt es morgen kein Israel mehr“, weil seine Feinde das Land von der Landkarte tilgen wollten: „Deshalb muss Israel Erfolg haben.“ Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung, formuliert es so: „Israel greift nicht an, es verteidigt sich.“ Und Susanne Wetterich, Vizevorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, die zu der Kundgebung eingeladen hat, ruft über den Marktplatz: „Wir stehen an eurer Seite!“ Dazwischen erklingt der eindringliche Gesang von Kantor Nathan Goldmann.
Je stärker der Regen, desto kürzer und oft auch prägnanter die Reden. Isabel Fezer spricht für die Stadtspitze. Sie drückt Mitgefühl aus, versichert die Solidarität der Stadt und betont: „Jüdinnen und Juden sind Mitbürger und Mitmenschen.“ Was sonst sollten sie sein? Dem evangelischen Stadtdekan Søren Schwesig macht Hoffnung, „dass jüdische Stimmen nicht verstummt sind“, und Heinz-Detlef Stäps, Domkapitular der Diözese Rottenburg-Stuttgart, erklärt: „Israel ist in diesem Konflikt das Opfer. Wir unterstreichen sein Selbstverteidigungsrecht. Kritik am militärischen Vorgehen kann niemals ein legitimer Grund für Antisemitismus hier bei uns sein. Es gibt überhaupt keinen legitimen Grund für Antisemitismus.“
Gegen Antisemitismus wendet sich an diesem 7. Oktober auch das Palästinakomitee, das zu einer Demonstration gegen „den Krieg in Gaza“ aufgerufen hat. So steht es auf einem großen Banner: „Gegen Krieg, Zionismus und Antisemitismus. Für proletarischen Internationalismus.“ Nach der Auftaktkundgebung am Schlossplatz begeben sich etwa 200 Demonstranten auf den Weg zum Wilhelmsbau – räumlich getrennt von der proisraelischen Solidaritätskundgebung. Die Polizei nimmt eine Person wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot fest. Die Demo selbst verläuft friedlich.
Die Parolen und Botschaften jedoch klingen wie aus einer anderen Welt. Hisbollah und Hamas, deren Symbole nicht gezeigt werden dürfen, „vertreten den Nahen Osten“, behauptet ein Redner: „Dahinter stehen Millionen Menschen.“ Beklagt wird ein „Genozid an den Palästinensern“. Man distanziert sich von Gewalt – gegen Zivilisten. Etliche Passanten wenden sich ab. „Ich kann das nicht hören“, sagt jemand, während Fanny-Michaela Reisin, Ex-Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, ausführt, die Hamas sei keine Terrororganisation, sondern „eine nationale Widerstands- und Befreiungsbewegung“. Das einzig Verbindende sind die Schweigeminuten – hier für die Toten in Gaza und im Nahen Osten, dort für die Opfer des Massakers und die Geiseln.
Die Beschäftigung mit dem Jahrestag findet an diesem Tag indes auch anderswo in Stuttgart statt: Ministerpräsident Winfried Kretschmann besucht am Vormittag die jüdische Gemeinde. Und am späten Abend wird im Theater Rampe über „Judenhass im Kunstbetrieb“ diskutiert.