Stuttgarts digitaler Zwilling im Internet
Von Stuttgart gibt es ein digitales Abbild, um Zukunftsszenarien durchzuspielen. Das Werkzeug soll bei der Energiewende helfen.
Von Judith A. Sägesser
Stuttgart - Der Tisch zieht Neulinge gleich in seinen Bann. Wie man auf der Tischplatte, die wie ein großer Smartphone-Bildschirm aussieht, per Fingerzoom durch Stuttgart segeln kann, in 3-D-Optik die Häuserschluchten entlang. Nun könnte man sagen: Es gibt auch virtuelle Stadtkarten bekannter Suchmaschinen-Anbieter. Doch diese hier kann Dinge, die für die Stadt ziemlich nützlich sein können beim Ziel, bis 2035 emissionsfrei zu sein. Denn was man auf dem von Leuten der Hochschule für Technik selbst gebauten Tisch sieht, ist der digitale Zwilling von Stuttgart.
Es handelt sich dabei um ein digitales Abbild aus vorhandenen Daten und Prozessen, sozusagen der digitale Schatten. Es habe gut vier Jahre gedauert, den digitalen Zwilling der Landeshauptstadt aufzubauen, sagt Professor Volker Coors, Prorektor Forschung und Digitalisierung an der Hochschule für Technik in Stuttgart. Aufbauen bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem, die Software zu entwickeln, sich Daten zu organisieren und das System damit zu füttern.
Was sie nun von Stuttgart haben, ist eine Abbildung der gebauten Stadt. Das ist wertvoll, weil sie nun zum einen recht einfach und mit Farben anschaulich zeigen können, wie der Wärmebedarf der 190 000 Gebäude ist oder ob es Quartiere gibt, die durch besonders niedrige Sanierungsraten hervorstechen. Zudem können die Wissenschaftler Szenarien simulieren. „Mit dem digitalen Zwilling kann man experimentieren“, sagt Coors. „Zu schauen, was passiert, wenn.“ Wie sieht es in Stuttgart 2035 aus, wenn die Sanierungsrate bei einem Prozent bleibt, wie, wenn sie auf fünf Prozent springt?
Der digitale Zwilling ist nie fertig, weil auch die Stadt nie fertig ist. Er ist sozusagen ein atmendes Konstrukt. Das Abbild sollte deshalb fortlaufend gepflegt werden. „Es muss aktuell bleiben, sonst ist er in fünf Jahren wieder nutzlos“, sagt Volker Coors.
Das Ganze ist Teil eines EU-Projekts mit mehreren Partnern, darunter eben auch die Stadt Stuttgart. In vier verschiedenen Quartieren wird untersucht, ob digitale Zwillinge helfen können auf dem Weg, Quartiere energetisch zu transformieren. Diese Quartiere befinden sich in Rotterdam, Wien, Breslau – und in Stuttgart: das Nordbahnhofviertel und später vermutlich das Rosensteinquartier.
In der Energiewende seien die Stadt und die Bürger gefragt, sagt Coors. Die Stadt schaffe die nötige Infrastruktur, aber bei den allermeisten Gebäuden sei es Privatsache, ob jemand in Dämmung, ein neues Heizsystem oder Photovoltaik investiert, sagt er. Sie wollen deshalb herausfinden, ob der digitale Zwilling hilft, die Leute besser einzubinden. Durch simuliertes Erleben.
Denselben Zweck haben die Vor-Ort-Termine der Hochschule mit Virtual-Reality-Brille, also einer Brille, die eine reale Autostraße optisch in eine Wiese umwandelt. „So kann ich es mir besser vorstellen“, erklärt Coors. „Die Pläne werden anschaulicher.“ In Fellbach haben sie zum Beispiel neulich Passanten in die virtuelle Realität entführt. Auf eine Kreuzung wurde ein neuer Kreisverkehr projiziert. Das Werkzeug sei noch nicht ausgereift, langfristig sollen in Stuttgart aber Daten aus dem digitalen Zwilling damit verknüpft werden. Gerade haben sie sich nämlich um ein weiteres Bundesförderprojekt beworben; es soll untersucht werden, ob digitale Zwillinge dazu beitragen können, die Akzeptanz für den Umbau der Städte – um sich ans Klima anzupassen – zu steigern.
Und welche Erkenntnisse hat der digitale Zwilling von Stuttgart über das Klimaziel 2035 bisher geliefert? Volker Coors seufzt kurz. Die Simulationen würden eigentlich nahelegen: „Es wird 2035 noch manche Quartiere geben, die nicht emissionsfrei sind.“ Plane man aber parallel mit energiepositiven Quartieren, könnte das die Gesamtbilanz trotzdem noch retten.