Trauer, aber auch Erleichterung

In dem Pflege- und Altenheim Alexander-Stift in Weissach im Tal brach Ende November Corona aus. Pflegekräfte und Bewohner infizierten sich mit dem Virus, einige überlebten Covid-19 nicht. Erst jetzt kehrt der Alltag langsam in das Heim zurück.

Das Alexander-Stift befindet sich im Westen von Unterweissach. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Das Alexander-Stift befindet sich im Westen von Unterweissach. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

WEISSACH IM TAL. Ende November nahm das Unheil seinen Anfang: Die ersten Schnelltests waren positiv – obwohl die Bewohner keine Symptome zeigten. Für den Heimleiter Arne Vogel war das ein Schock. Aber nicht nur für ihn, sondern auch für die Bewohner des Pflege- und Altenheims Alexander-Stift in Weissach im Tal. Und für die Mitarbeiter.

„Vier Coronafälle waren es zuerst“, erinnert sich Vogel. Noch am selben Tag übermittelte er die Testergebnisse dem Gesundheitsamt. Das gesamte Heim kam unter Quarantäne. In den Tagen darauf schnellte die Zahl der Infizierten nach oben. Um die gesunden Bewohner zu schützen, entschied die Heimleitung sofort, dass alle bis auf Weiteres auf ihren Zimmern bleiben müssen. „Eine harte Maßnahme“, sagt Vogel, „aber es ging nicht anders.“

„Im Haus herrschte eine Grundanspannung.“

Für die alten Menschen begannen schwierige Wochen: Vorher durften sie sich frei im Haus bewegen. Sie trafen sich zum gemeinsamen Mittag- oder Abendessen und zu Gesprächen auf den Fluren. Von einem Tag auf den anderen war das nicht mehr möglich. „Das war ein großer Einschnitt in das Leben der Bewohner“, sagt Vogel. Bei einigen lösten die Regelungen sogar traumatische Reaktionen aus: „Manche verbanden das mit Kriegserinnerungen.“

Auch die Mitarbeiter gingen nach den ersten bestätigten Covid-19-Fällen mit einem anderen Gefühl zur Arbeit. „Im Haus herrschte eine Grundanspannung“, berichtet Vogel. Viele Pflegekräfte hatten Angst, sich anzustecken oder das Virus mit nach Hause zu bringen. „Einige der Mitarbeiter sind über 60, andere haben Kinder oder pflegebedürftige Eltern“, sagt er. Über alledem schwebte die Sorge, die Bewohner aus Versehen anzustecken.

Über Wochen hinweg befand sich die Belegschaft des Alexander-Stifts in Alarmbereitschaft. Trotz der Kontaktbeschränkungen verbreitete sich das Virus weiter. Im Lauf des Dezembers wurden 40 Bewohner sowie 22 der 54 Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet.

Dass Pflegekräfte krankheitsbedingt ausfielen, verschärfte die Situation. „Die Mitarbeiter, die da waren, haben enorm über der Belastungsgrenze gearbeitet“, weiß Gaby Schröder, Geschäftsführerin des Alexander-Stifts. Sie habe die größte Hochachtung vor den Mitarbeitern, betont sie. „Es war beeindruckend, was das Team geleistet hat“, sagt Heimleiter Vogel.

Als Teil einer reduzierten Belegschaft mussten manche Pflegekräfte „auch mal 20 Tage am Stück schaffen“, erklärt Schröder. „Jeder Tag muss ja abgedeckt sein in einem Pflege- und Altenheim.“ Doch nicht nur die Mehrarbeit belastete die Mitarbeiter. Sondern auch das Wissen um die Krankheit, die Ansteckungsgefahr. Alles, was früher Routine für sie war, mussten sie nun bewusst ausführen, um das Infektionsrisiko zu minimieren: die Hilfe beim Ankleiden der Bewohner etwa, das Servieren des Mittagessens.

In seinen 15 Jahren Berufsleben habe er noch nie eine derart belastende und anstrengende Zeit erlebt, sagt Vogel. „Im Team haben wir uns sehr gut gegenseitig unterstützt, aber da flossen auch mal Tränen.“ Auch wegen der Angst um die Bewohner, die sich infiziert hatten.

Einer von ihnen war Max Bollwage. Der 93-Jährige wohnt seit neun Jahren im Alexander-Stift. Bei ihm verlief die Krankheit glimpflich. „Vielleicht hatte ich ein bisschen Fieber“, sagt er. „An mehr erinnere ich mich nicht.“ Auch die Quarantäne empfand Bollwage als wenig aufregend: „Ich kann gut alleine leben.“

Was ihm in Erinnerung geblieben ist, ist die Zeit nach der Quarantäne. Als ihm bewusst wurde, dass manche Bewohner Covid-19 nicht überlebt hatten. „Das war furchtbar“, sagt Bollwage. „Ich kannte sie alle.“ Ob er selbst Angst hatte? Nein, Angst habe er nicht gehabt, winkt der alte Mann ab und lacht. „Mit 93 kann einem nichts mehr passieren.“

Auf die Schutzmaßnahmen im Heim reagierten die Bewohner unterschiedlich, sagt Heimleiter Vogel. Die meisten hätten Verständnis gehabt, sagt er. Was viele störte war, dass keine Besuche mehr in den Zimmern erlaubt waren. „Die Gefühle der Familienangehörigen können wir in der Pflege nicht ersetzen“, weiß er. Auch wenn die Pflegekräfte die Bewohner zum Teil schon seit Jahren kennen.

Mithilfe von Tablets und regelmäßigen Videoanrufen versuchten die Mitarbeiter, den Kontakt zwischen den Bewohnern und ihren Familien aufrechtzuerhalten. „Das war neu für viele Bewohner“, sagt Geschäftsführerin Gaby Schröder. Für die Angehörigen sei die Situation ebenfalls nicht leicht gewesen. „Sich nicht selbst überzeugen zu können, dass es dem Vater oder der Mutter gut geht, war für viele sehr bedrückend.“

Auch für die Gemeinde waren die Nachrichten aus dem Alexander-Stift nur schwer auszuhalten, sagt Bürgermeister Ian Schölzel. Er selbst kannte aufgrund seines Amts mehrere der verstorbenen Bewohner persönlich, zum Beispiel von Besuchen bei runden Geburtstagen. Eine Frau habe nach seinem Wahlerfolg einen Kuchen für ihn gebacken, erzählt er. „Man hatte einen Bezug zu den Leuten.“

Für jeden der Verstorbenen wurde auf einem bestimmten Tisch im Heim eine LED-Kerze aufgestellt. „Wir gehen sehr offen mit Todesfällen um“, sagt Gaby Schröder.

Die Pflegekräfte und Bewohner werden regelmäßig getestet.

Inzwischen sind wieder Besuche im Alexander-Stift möglich. An den Tagen um Silvester, mehr als vier Wochen nach den ersten positiven Schnelltests, wurde die Quarantäne aufgehoben. Schon um Weihnachten herum habe das Infektionsgeschehen nachgelassen, berichtet Heimleiter Arne Vogel. „Die Erleichterung war riesengroß.“

Um die Sicherheit der Pflegekräfte und der Bewohner zu gewährleisten, werden nach wie vor alle regelmäßig getestet. Jeder Mitarbeiter, der sich gesundheitlich nicht wohlfühlt, ist von der Heimleitung dazu angehalten, direkt zu Hause zu bleiben. „Manche Mitarbeiter haben ihre Kontakte über das von uns vorgeschriebene Maß eingeschränkt“, berichtet Vogel. „Einige versuchen sogar, in ihren eigenen Haushalten weitmöglichst getrennt voneinander zu leben.“

Seit ungefähr vier Wochen hat sich die Lage im Alexander-Stift beruhigt. Seither wurde niemand mehr positiv getestet, können sich die Bewohner wieder frei im Haus bewegen. „Jetzt geht alles so weiter wie vorher“, sagt der 93-jährige Max Bollwage und meint damit: wie vor der Pandemie. Er ist erleichtert, dass der Alltag wieder einkehrt, auch wenn der noch mit „einem Haufen Trauer“ verbunden ist: „Es ist schmerzlich, wenn man plötzlich so viele Menschen verliert, mit denen man sich vorher täglich unterhalten hat.“

Das spüren auch die Mitarbeiter. Nach den anstrengenden Quarantänewochen konnten sie zwar kurz zur Ruhe kommen, sagt Heimleiter Arne Vogel. Gleichzeitig sei in dieser Zeit vielen erst richtig bewusst geworden, was passiert sei. „Diese Trauer zu verarbeiten, war noch einmal sehr belastend“, sagt er.

Und doch sieht er auch ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Das Schönste für ihn war, die Bewohner nach den Lockerungen im neuen Jahr wieder in ihrem alltäglichen Leben zu erleben, ihr Lachen auf den Gängen zu hören. „Da habe ich gemerkt, wie schön so ein Alltag sein kann.“

Besuche nur mit negativem Test

Vor dem Hintergrund der Coronapandemie sind Besuche im Alexander-Stift aktuell nur nach vorheriger Anmeldung möglich.

Besucher müssen einen negativen Coronatest vorweisen. Schnelltests führen die Heimmitarbeiter zu bestimmten Zeiten im Eingangsbereich aus. Bundeswehrsoldaten unterstützen die Mitarbeiter momentan bei der Abwicklung der Tests.

Alternativ können Besucher ein negatives Testergebnis, beispielsweise vom Hausarzt, vorweisen. Das Ergebnis darf allerdings nicht älter als 24 Stunden sein.

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Erstellt:
10. Februar 2021, 06:00 Uhr

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