Turmgespräch mit Bernhard Trefz: „Die Vergangenheit wird oft verklärt“

Turmgespräche Zum Auftakt unserer neuen Interviewreihe spricht Stadtarchivar Bernhard Trefz über den Stadtturm und die historische Entwicklung Backnangs. Außerdem verrät er, warum er Telefonbücher aufbewahrt.

In luftiger Höhe ganz Backnang im Blick: Stadtarchivar Bernhard Trefz (rechts) im Gespräch mit Redaktionsleiter Kornelius Fritz auf dem Umlauf des 45 Meter hohen Stadtturms. Fotos: Alexander Becher

© Alexander Becher

In luftiger Höhe ganz Backnang im Blick: Stadtarchivar Bernhard Trefz (rechts) im Gespräch mit Redaktionsleiter Kornelius Fritz auf dem Umlauf des 45 Meter hohen Stadtturms. Fotos: Alexander Becher

Wir befinden uns hier auf dem Stadtturm, dem Backnanger Wahrzeichen. Wie lange gibt es diesen Turm eigentlich schon in seiner heutigen Form?

Gebaut wurde er 1614, aber er geht auf eine Kirche zurück, die aus dem Mittelalter stammt. Anfang des 12. Jahrhunderts wurde in Backnang ein Augustiner-Chorherrenstift eingerichtet. Damit war die Kirche, die hier oben stand, die heutige Stiftskirche, belegt und die Markgrafen von Baden mussten für die Bevölkerung von Backnang eine zweite Kirche bauen: die Michaelskirche. Diese war in Betrieb bis zur Reformation im 16. Jahrhundert, dann wurde das Chorherrenstift aufgelöst und die Bevölkerung ging wieder in die Stiftskirche zum Gottesdienst. Die Michaelskirche war somit überflüssig und man hat sich überlegt, was man damit machen soll. Eine Zeit lang wurde Getreide darin gelagert, dann kam man auf die Idee: Man könnte den Kirchturm doch erhöhen und einen Stadtturm daraus machen. Dieser ist dann von 1614 bis 1615 nach Plänen von Heinrich Schickhardt entstanden.

Welche Funktion hatte der Turm in früherer Zeit?

Damals hat hier oben ein Türmer gewohnt, der sogenannte Hochwächter. Er hatte die Aufgabe zu melden, wenn es irgendwo brennt oder wenn Feinde anrücken. Außerdem hat er immer zur vollen Stunde vom Turm geblasen, denn eine Uhr gab es am Stadtturm damals noch nicht.

Wie lange gab es noch einen Türmer auf dem Stadtturm?

Bis 1923. Hermann Zink war der letzte Turmbläser, der auch hier oben gewohnt hat. Mit seinem Tod ist die Tradition dann abgebrochen. Anschließend wurde der Turm zum Teil vermietet. Ich erinnere mich noch daran, dass sich die Pfadfinder hier oben getroffen haben. Heute kann man auf dem Stadtturm standesamtlich heiraten und ihn bei Stadtführungen besichtigen. Größere Veranstaltungen sind hier aber schon aus brandschutztechnischen Gründen nicht möglich.

Sie beschäftigen sich seit 1996 hauptberuflich mit der Geschichte der Stadt, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2002 als Stadtarchivar. Wie muss man sich den Arbeitsalltag eines Archivars eigentlich vorstellen?

Ein Archivar ist jemand, der die Unterlagen einer Stadt, die historisch bedeutsam sind, übernimmt, ordnet und dann der Öffentlichkeit zugänglich macht. Ich bin aber eigentlich kein Archivar, sondern Historiker. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt eher darauf, dass ich Veröffentlichungen, Stadtführungen und Ausstellungen mache. Die Archivarsarbeit läuft so nebenher.

Wie groß ist denn das Backnanger Stadtarchiv?

Unser Bestand füllt im Technikforum eine Ebene voll mit Rollregalen, insgesamt etwa 1100 laufende Meter. Das historische Archiv beginnt nach dem Stadtbrand von 1693 und geht bis 1945. Als ich hier angefangen habe, habe ich drei Jahre lang alles verzeichnet, sodass wir alle Akten kennen, die wir aus dieser Zeit haben. Diese Arbeit war nur mäßig spannend, aber wichtig, damit man weiß, was alles da ist. Wenn wir heute Anfragen bekommen, können wir sofort sagen: Dazu haben wir etwas da oder nicht.

Was ist denn alles archiviert?

Das sind vor allem Unterlagen, die die Stadtverwaltung produziert hat. Natürlich nicht vollständig, denn es wurde auch vieles weggeworfen, von dem man meinte, es sei nicht wichtig. Heute gibt es ein Archivgesetz, dass man keine Unterlagen, die aus der Zeit bis 1945 stammen, mehr wegwerfen darf. Das kam aber leider zu spät.

Bekommen Sie auch Unterlagen aus privaten Beständen?

Wir nehmen auch Nachlässe und Stiftungen an, wenn wir der Meinung sind, dass sie bedeutend für die Stadtgeschichte sind. Etwa von Vereinen: Die TSG Backnang hat uns zum Beispiel ihre Protokollbücher vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit vorbeigebracht. Die bewahren wir auch auf. Und natürlich alte Zeitungen: 90 Prozent der Leute, die in unser Archiv kommen, wollen in die Zeitung schauen.

Wie gut ist die Backnanger Stadtgeschichte eigentlich dokumentiert?

Je weiter Sie zurückgehen, desto schlechter. Es gibt in Backnang überhaupt erst ab 1693 Unterlagen, weil der Stadtbrand alles, was davor war, vernichtet hat. Wir haben genau eine Archivale von 1557, die den Brand überlebt hat. Leider ist die auch noch stinklangweilig: Darin steht, an wen die Stadt eine Schafweide verpachtet hat. Ansonsten gibt es auch im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart noch ältere Dokumente, die Backnang betreffen. Aber es werden immer weniger, je weiter sie zurückgehen.

Welche Zeit in der mehr als 950-jährigen Stadtgeschichte finden Sie denn besonders spannend?

Ich finde die neuere Zeit am spannendsten, also die Entwicklung zur Industriestadt im 19. und 20. Jahrhundert, weil sich Backnang in dieser Zeit gewaltig verändert hat.

Backnang ist heute ein Mittelzentrum mit fast 40000 Einwohnern. Wie müssen wir uns die Stadt denn vorstellen, wenn wir uns gedanklich mal ins 19. Jahrhundert zurückversetzen?

Backnang war ein Dorf. Im Prinzip haben sie hier bis Anfang des 19. Jahrhunderts noch die mittelalterlichen Strukturen gehabt. Die Stadt hat noch ausgesehen wie 500 oder 600 Jahre davor, mit Stadtmauern und Stadttoren. Erst durch die Industrialisierung hat sich die Stadt entwickelt.

Wann hat die Industrialisierung im Murrtal begonnen?

Die frühe Industrialisierung fängt 1832 an mit der Spinnerei Adolff, wobei die Anfänge noch überschaubar waren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Voraussetzungen dann da: Mit dem Eisenbahnanschluss gab es eine bessere Anbindung, es gab erstmals Banken, bei denen man sich Geld leihen konnte, und es gab die Dampfmaschine. Dadurch hat sich das Ganze dann entwickelt.

Bernhard Trefz beim Interview in der Turmstube: Der Historiker beschäftigt sich schon seit 1996 mit der Backnanger Stadtgeschichte.

© Alexander Becher

Bernhard Trefz beim Interview in der Turmstube: Der Historiker beschäftigt sich schon seit 1996 mit der Backnanger Stadtgeschichte.

Die Lederindustrie hat Backnang über lange Zeit geprägt. Warum war gerade dieses Gewerbe hier so dominant?

Um gerben zu können, brauchen sie Wasser, sie brauchen Tierhäute, also Landwirtschaft, und sie brauchen Wälder wegen der Rinde, die für den Gerbprozess gebraucht wurde. Das alles gab es rund um Backnang. Und die Stadt lag verkehrsgünstig zwischen der freien Reichsstadt Schwäbisch Hall und Stuttgart, der Hauptstadt der Württemberger. Deshalb haben sich schon im Mittelalter viele Gerber hier angesiedelt, im 19. Jahrhundert wurde das dann industrialisiert. Backnang hat sich damals selbst als die süddeutsche Gerberstadt bezeichnet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam mit AEG-Telefunken dann auch noch die Nachrichtentechnik in die Stadt. Wie kam es dazu?

Das war, wenn man so will, Zufall. Telefunken war im Osten von Berlin, also in der sowjetischen Besatzungszone. Die Russen haben dort alles abgebaut und in die Sowjetunion mitgenommen. Darauf hat sich Telefunken neue Standorte in Westdeutschland gesucht. Nach Backnang sind sie gekommen, weil die Stadt relativ wenig zerstört war und weil es freie Flächen gab. Die Lederfabrik Fritz Häuser hatte kurz zuvor ihren Standort auf die Obere Walke verlegt. Zunächst hat die AEG hier Kühlschränke gebaut, später kam die Nachrichtentechnik hinzu und irgendwann hat Telefunken andere Standorte aufgelöst und alles hier konzentriert. Das war ein Segen für Backnang, denn dadurch kamen viele Ingenieure in die Stadt, also Leute, die ein ganz anderes Bildungsniveau hatten als die Arbeiter in der Spinnerei oder den Lederfabriken. Das hat die Stadt weit nach vorne gebracht.

Inzwischen ist die Lederindustrie ebenso verschwunden wie die Textilindustrie. Auch die Nachrichtentechnik hat heute nicht mehr diese Bedeutung. Welche Folgen hatte der Niedergang dieser Industriezweige für die Stadt?

Es sind erst mal viele Arbeitsplätze verloren gegangen. Die Stadt hat aber bereits in den 1960er-Jahren, als es den Leitindustrien schon nicht mehr so gut ging, gemerkt: Wir müssen etwas tun. Deshalb wurde damit begonnen, Gewerbegebiete auszuweisen. So konnte man die Arbeitsplätze, die in den Großbetrieben verloren gingen, dadurch ausgleichen, dass man kleinere Unternehmen aus anderen Branchen neu angesiedelt hat. Heute hat Backnang ähnlich viele Arbeitsplätze wie damals, ist aber nicht mehr so abhängig von wenigen Großbetrieben.

Den historischen Wert von Dingen erkennt man oft erst im Rückblick. Was archivieren Sie heute, was für unsere Nachfahren von Interesse sein könnte?

Die Prämisse eines Archivars ist immer: Was ist in 200 Jahren vielleicht noch interessant? Deshalb bewahren wir zum Beispiel Telefonbücher auf. Da denken sicher viele: Was ist daran interessant? Aber aus Telefonbüchern kann man auch in 200 Jahren noch relativ viele Informationen herausziehen. Auch Bauakten und Gemeinderatsprotokolle werden wir immer aufbewahren.

Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten und sich aussuchen könnten, in welcher Zeit Sie leben können, welche würden Sie sich aussuchen?

Leben möchte ich in keiner anderen Zeit. Die Vergangenheit wird oft verklärt. Es war früher sicher nicht angenehm für die Bevölkerung, es sei denn, man gehörte zum Hochadel. Was mich mehr interessieren würde, ist, wie Backnang in 200 Jahren aussehen wird. Aber ob ich dann dort leben will? Wahrscheinlich eher nicht.

Das Gespräch führte Kornelius Fritz.

Blick vom Turm

Schule Bernhard Trefz (Jahrgang 1962) ist in Backnang geboren und in Aspach aufgewachsen, wo er heute noch wohnt. Vom Stadtturm blickt er auch auf das Gymnasium in der Taus, zu dessen ersten Schülern er nach der Eröffnung im Jahr 1974 gehörte.

Bausünden Von oben sieht man in der Altstadt neben roten Giebeldächern auch einige Flachdachbauten aus den 1960er-Jahren. Bernhard Trefz blutet das Herz, wenn er solche Bausünden sieht. Allerdings weist er darauf hin, dass auch die Fachwerkhäuser nicht aus dem Mittelalter stammen. Als französische Soldaten die Stadt 1693 in Brand steckten, blieb von den alten Gebäuden außer den Kellern fast nichts übrig.

Stiftskirche Gleich neben dem Stadtturm steht Backnangs größte Kirche, die aber kurioserweise keine großen Glocken hat. Wenn in der Stiftskirche Gottesdienst ist, läuten deshalb die Glocken im Stadtturm.

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Erstellt:
27. Mai 2023, 06:00 Uhr

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