Turmgespräch mit Inge Wagner: „In Annonay pulsiert das Leben“
Turmgespräche Frankreich hat in Inge Wagners Leben stets eine große Rolle gespielt. Die Vorsitzende des Vereins „Freunde der Städtepartnerschaft Backnang-Annonay“ betont den hohen Wert des interkulturellen Austauschs.
Frau Wagner, welche Bedeutung haben Städtepartnerschaften heutzutage?
Aus meiner Sicht eine sehr große. Wir leben in einer Zeit, in der es viele Kriege gibt, nicht zuletzt den in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund nimmt die Bedeutung von Städtepartnerschaften sicherlich noch mal zu. Diese Ebene des Miteinanders zwischen Bürgerinnen und Bürgern ist für mich ein ganz besonderer Aspekt des Friedens. Es ist wichtig, diese Partnerschaften zu pflegen, damit man das Wesentliche nicht aus den Augen verliert: die Völkerverständigung.
Wie wichtig ist es, dass sich die Verbindung auch im Stadtbild niederschlägt?
Ich finde das sehr wichtig, dass das in einer Stadt verankert ist. Es ist ein Symbol, wenn Gäste aus den Partnerstädten zu Besuch kommen und es schafft ein Bewusstsein bei den Bürgerinnen und Bürger, die hier leben. Eins unserer Vereinsziele lautet denn auch, dass wir mit anderen Backnanger Vereinen kooperieren wollen, damit die Verbindung mit Annonay noch breiter aufgestellt ist.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Der Triathlonclub Backnang hat dieses Jahr beispielsweise eine Staffel nach Annonay absolviert. Zum Jubiläum der TSG Backnang 1846 waren Sportlerinnen und Sportler hier – nicht nur aus Annonay, sondern auch aus Chelmsford, Backnangs britischer Partnerstadt. Seit Neuestem kooperiert zudem der Schachverein von Annonay mit dem von Backnang. Da sind auch einige junge Leute dabei. Das begrüßen wir sehr, denn es geht uns da ähnlich wie vielen Vereinen: Wir brauchen jüngere Mitstreiterinnen und Mitstreiter, unser Altersdurchschnitt ist nicht sehr jugendlich (lacht).
„Wir möchten junge Erwachsene aus Annonay und Backnang dafür gewinnen, miteinander zu verreisen“
Wie versuchen Sie im Verein, junge Menschen zu erreichen?
Über Schüleraustausche, die an den Backnanger Schulen, die sich beteiligen, wirklich sehr gut funktionieren. Dazu eben über die Sportvereine. Beim Straßenfest kam meine Co-Präsidentin vom Partnerschaftskomitee in Annonay, Françoise Michaud, noch auf eine tolle Idee. Und zwar möchten wir junge Erwachsene aus Annonay und Backnang dafür gewinnen, miteinander zu verreisen. Sie sollen zusammen europäische Städte besichtigen und dabei die Probleme, die es auf der Welt gibt, erörtern. Aktuell ist das noch eine Vision, aber ich hoffe, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft Realität wird.
Wieso sollten alle Backnangerinnen und Backnanger, die noch nicht dort waren, einmal nach Annonay fahren?
Allein schon wegen des französischen Flairs. Dort pulsiert das Leben – da ist eine Freundlichkeit und eine Herzlichkeit, die einem richtiggehend entgegenschlägt. Mir wird immer schon ganz warm ums Herz, wenn ich von Serrières im Rhonetal nach Annonay hinauffahre. Vor Ort ist es für mich ein Highlight, am Place des Cordeliers im Café du Midi einen Espresso zu trinken. Wenn ich da sitze, bin ich erst so richtig angekommen. Was beim ersten Besuch auch ein Höhepunkt sein könnte, wäre eine Ballonfahrt. Denn die Gebrüder Montgolfier, die Erfinder des Heißluftballons, stammen ja bekanntlich aus Annonay.
Blicken wir auf die Anfänge zurück: Wie ist die Partnerschaft zwischen Backnang und Annonay entstanden?
Es ist nicht genau nachvollziehbar, wer als erstes mit welcher Gruppe in Annonay war, dieser Erfolg hatte sozusagen viele Mütter und Väter. Wir wissen, dass Backnang in Deutschland eine der ältesten Städtepartnerschaften mit einer französischen Stadt hatte. Die gemeinsame Basis dafür war die Lederindustrie. Auch Annonay war Gerber- und Lederstadt. In dem Buch „Backnang und Annonay – gemeinsam ins Jahr 2000. Bildbericht einer langjährigen Städtepartnerschaft“, das die Stadt Backnang herausgegeben hat, ist zu lesen, dass 150 Backnangerinnen und Backnanger im Mai 1966 nach Annonay fuhren, um die Städtepartnerschaft offiziell zu machen.
„Heute hat der Verein rund 100 Mitglieder“
Wie hat sich daraus der heutige Verein entwickelt?
Im Jahr 2005 wurde zunächst einmal das Partnerschaftskomitee Annonay-Backnang gegründet. Präsident war damals Michel Thobois. Er hat die Basis gelegt für das, was wir jetzt machen. Unseren Verein haben wir im Juli 2021 gegründet. Die Eintragung ins Vereinsregister erfolgte im Januar 2022. Heute hat der Verein rund 100 Mitglieder.
Wie kam Ihre Frankreich-Liebe auf?
Mit 14 Jahren war ich zum ersten Mal privat in Frankreich, bei einer Brieffreundin. Dann war ich mal in Paris bei einem Sprachkurs. Ein weiterer Auslöser für meine Liebe zu Frankreich war mein Vater. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahre in Frankreich in Kriegsgefangenschaft und hat nördlich von Paris auf einem Bauernhof mitgearbeitet. Zu der Familie, bei der er war, hatten wir sein Leben lang Kontakt. Das hat mich sehr berührt, weil es einen eindeutigen Schritt vom Krieg zum Frieden, vom Erzfeind zum Freund, dargestellt hat.
Wie sah diese Freundschaft aus?
Wir haben die Familie auf ihrem Hof in Frankreich besucht, sie uns in Deutschland. Einmal verbrachte die Enkelin des Bauern sogar die ganzen Sommerferien bei meinen Eltern, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Da war ich aber schon ausgezogen.
„Die Pandemie hat uns stark ausgebremst“
Wie kam Ihr Engagement zustande?
Als ich noch Lehrerin an der Berufsschule war, war ein Highlight meines Berufsalltags, Schüleraustausche mitzuorganisieren und zu betreuen. Durch die Austausche habe ich Annonay kennengelernt sowie viele Kolleginnen und Kollegen, darunter eben auch Michel Thobois. Als das Partnerschaftskomitee 2005 gegründet wurde, war es für mich selbstverständlich, dass ich dabei bin.
Wie hat sich die Coronapandemie auf den Verein ausgewirkt?
Die Pandemie hat uns stark ausgebremst. Wir waren zwar immer per E-Mail oder WhatsApp verbunden. Aber breit gefächert ist natürlich nichts passiert. Für uns war das Ende der Pandemie ein echter Neuanfang.
Wie sehen die Aktivitäten derzeit aus?
Wir haben zum Beispiel deutsch-französische Filmabende und einen monatlichen Stammtisch, der abwechselnd in deutscher und in französischer Sprache stattfindet. Wie schon zuvor das Partnerschaftskomitee haben wir als Verein einen Stand auf dem Backnanger Weihnachtsmarkt. Am Straßenfest unterstützen wir beim Aufbau des Annonayer Stands „Gourmandises d’Ardèche“, empfangen und betreuen Gäste. Mit dem Rundschreiben „Nouvelles“ informieren wir einmal im Monat über die Aktivitäten und Veranstaltungen des Vormonats. Dazu kommen weitere besondere Aktionen.
„Nur bei den Leuten zu Hause lernt man die Kultur und die Menschen kennen“
Welche zum Beispiel?
Übers erste Juni-Wochenende sind wir mit unserem Partnerschaftsbus von Backnang nach Annonay gefahren. Dabei waren Mitglieder und Nichtmitglieder. Ein paar haben bei Freunden übernachtet, andere im Hotel. Aber viele haben gesagt: Sie kennen zwar niemanden in Annonay, würden aber gerne in eine Gastfamilie. Und das Tolle war: Das Annonayer Komitee hat diese vermittelt. Genauso wünsche ich mir den Austausch. Denn nur bei den Leuten zu Hause lernt man die Kultur und die Menschen kennen. Dazu hat das Komitee ein super Programm auf die Beine gestellt.
Durch den Verein sind sicherlich viele Freundschaften entstanden.
So ist es. Viele, die im Juni in Annonay dabei waren, schreiben sich zum Beispiel auch noch weiterhin privat mit ihren Gastgebern. Durch den Verein kommen aber auch hier in Backnang oft Freundschaften zustande.
Tauscht sich Ihr Verein denn auch mit den Partnerschaftsverein Backnang-Chelmsford und dem Partnerschaftskomitee Bácsalmás-Backnang aus?
Ja. Wir sitzen oft an einem Tisch, tauschen uns aus und helfen uns gegenseitig. Wir haben zwar viele eigene Events, aber alle dasselbe Ziel. Und manchmal gibt es auch Veranstaltungen, an denen wir alle beteiligt sind. Beispielsweise am Straßenkunstfestival „Mitten in Europa“, das im Oktober vom Backnanger Bandhaus-Theater veranstaltet wird. Künstlerinnen und Künstler aus den Partnerstädten werden dabei auftreten.
„Wir haben noch einige Meilensteine vor uns“
Wie ist die Kooperation mit der Stadt?
Die Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Sportamt und den Partnerschaftsvereinen ist generell sehr gut. Ein Beispiel ist der Auftritt der französischen Straßentheatergruppe des Projekts „Quelques p’Arts“ auf dem diesjährigen Straßenfest. Er war nur durch eine Förderung der Stadt möglich.
Was sind die Vereinspläne für 2024?
2024 möchten wir die Franzosen einladen, mit dem Partnerschaftsbus nach Backnang zu kommen und ihnen hier auch ein tolles Programm bieten. Daran sollen selbstverständlich auch die Backnanger teilhaben können. Wir haben noch einige Meilensteine vor uns und werden im Verein weiterhin motiviert, engagiert und aktiv sein.
Das Gespräch führte Melanie Maier.
Vita Inge Wagner wurde 1956 in Schwäbisch Hall geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihr Abitur machte sie 1975 am Erasmus-Widmann-Gymnasium im Schulzentrum West. Anschließend studierte sie Nahrung, Englisch und Berufspädagogik an der Berufspädagogischen Hochschule in Stuttgart. Ihr Referendariat absolvierte sie in Heilbronn und in Ludwigsburg. Von 1980 bis 2009 war sie Lehrerin an der gewerblichen Schule Backnang, von 2009 bis 2020 an der kaufmännischen Schule in Künzelsau. Seit 2020 ist sie im Ruhestand. Wagner lebt in Weissach im Tal. Sie ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Der Stadtturm ist trotz ihrer Höhenangst einer ihrer Lieblingsorte in Backnang. Wagner war schon mehrfach mit Gruppen oben – normalerweise wartet sie allerdings eine Etage tiefer, bis alle wieder zurückkommen. Für die BKZ hat sie sich sogar auf die Aussichtsplattform gewagt.
Ausblick Die erste Erinnerung, die Wagner beim Ausblick in den Sinn kommt, ist die an den letzten Abend des diesjährigen Backnanger Straßenfests. „Der war emotional so was von schön“, sagt sie. Zusammen mit weiteren Mitgliedern des Vereins „Freunde der Städtepartnerschaft Backnang-Annonay“ und Gästen aus Annonay saß sie am „Gourmandises“-Stand und trank dort ein Gläschen Wein. Zum Zapfenstreich ging es hinunter in die Marktstraße. „Dort dabei zu sein hat mich unheimlich bewegt, weil ich den Straßenfest-Montag seit 14 Jahren nicht mehr miterlebt hatte“, erzählt Wagner. Ein Handyvideo vom Festabschluss schickte sie später an die Französinnen und Franzosen. „Sie waren auch ungemein berührt. Denn leider ist es oft so, dass sie montags früh abreisen oder sogar schon am Sonntagabend, weil viele von ihnen berufstätig sind“, erklärt Wagner. „Dieses Jahr haben wir das Straßenfest bis zum Schluss zusammen genossen. Wenn ich daran zurückdenke, wird’s mir ganz warm ums Herz.“