Krieg im Osten Europas
Ukraine hat große Erwartungen an Merz
Der Ausgang der Bundestagswahl wurde in der Ukraine mit großem Interesse verfolgt. Vom Wahlsieger Friedrich Merz wird erwartet, dass er stärker als Kanzler Olaf Scholz eine Führungsrolle in Europa übernimmt.

© dpa/Michael Kappeler
Im Dezember 2024 war Friedrich Merz zuletzt bei Wolodymyr Selenskyj in Kiew.
Von Franz Feyder
Die Nacht zu dem Sonntag, an dem die Deutschen einen neuen Bundestag wählten, war die schlimmste seit drei Jahren. Für die Menschen in Kiew, in Odessa und Charkiw, für alle in der Ukraine: 269 Drohnen und Bomber hatte Russlands Machthaber Wladimir Putin über die Grenze geschickt, dazu drei ballistische Boden-Boden-Raketen. 259 fing die ukrainische Luftabwehr ab, nur zehn Flugkörper fanden ihre Ziele in der Ukraine, bis gegen 5.20 Uhr der Tag an- und die nervtötenden Sirenen abbrachen.
„Werdet Ihr jetzt mehr dagegen tun“, fragt Natalija kurz vor 20 Uhr Ortszeit in der Hauptstadt Kiew. Die Studentin und Kellnerin hat auf ihrem Handy nach Hochrechnungen gesucht – und ist fündig geworden. „Für was steht Merz, wenn es um uns geht? Liefert er Taurus?“ Der deutsche Marschflugkörper hat einen legendären Ruf unter den Ukrainerinnen und Ukrainern: seine Zielgenauigkeit, dass er auch Flughäfen und militärische Logistikzentren in Russland treffen kann, das weckt Begehrlichkeiten bei den Menschen in einem Land, dass vor elf Jahren von Putin und willfährigen Russen überfallen wurde.
„Pistorius hat immer sein Wort gehalten“
„Warum ist Pistorius nicht euer Bundeskanzler geworden?”, will Vadim wissen. Mit seiner Freundin trinkt der Programmierer einen Kaffee nahe des Maidan. Jenem geschichtsträchtigen Platz im Herzen der Hauptstadt, auf dem die Menschen um ihre Freiheit kämpften und für ihre Freiheit starben. Der deutsche Verteidigungsminister hat – anders als sein Parteigenosse Olaf Scholz – einen sehr guten Ruf in der Ukraine. „Dem kann man vertrauen. Der hat immer sein Wort gehalten. Er war oft hier und wollte uns den Taurus geben.“ Ob Merz das machen werde, “jetzt, wo wir von den USA verraten werden”?
Überhaupt, wie glaubwürdig sei Merz, will „Vespasian“ wissen. Die Abzeichen auf seiner beige-farbenen, hell- und dunkelgrün gecheckten Uniform weisen ihn als Major aus. Wie alle Soldaten nennt er nur seinen Kampfnamen. Zu oft haben russische Cyberkrieger Familien mit Nachrichten über angeblich an der Front gefallene Verwandte in den Wahnsinn getrieben.
„Wird Merz Europa anführen?“
„Ihr hattet 1992 mehr als 4700 Kampfpanzer, 2008 hatte ihr noch 244. Merz war fast diese gesamte Zeit im Bundestag. Hat er etwas dagegen getan? Oder dagegen, dass ihr auf dem Gefechtsfeld keine Flugabwehr mehr habt?“ Vespasians Fragen sprudeln aus ihm heraus. Ob der designierte neue Kanzler jetzt andere Berater habe. Wie ernst er die Sicherheitspolitik nehme, „jetzt, wo Trump Europa und die Ukraine jeden Tag mehr in die Scheiße reitet. Das war ja absehbar. Im Baltikum, in Polen, in Tschechien haben es die Politiker mehr als 15 Jahre vorhergesagt.” Aber Europa habe geschlafen. Auch und gerade Deutschland. „Ihr hättet Europa führen müssen. Wer denn sonst?“ Stattdessen habe man Putin geglaubt. Sich von ihm einlullen lassen. Und jetzt? „Wird Merz Europa anführen?“
Eine Frage, die auch Oleksandr in Pokrovsk bewegt. Seit fünf Monate wird die südukrainische Stadt von der russischen Soldateska belagert. Niemand weiß genau, wie viele Menschen der einst 60 000 Einwohner zählenden Stadt noch hier leben. Menschenleere Straßen und Gassen, auf die ab und an mal einer verstohlen einen Blick aus einem Fenster wirft. Manchmal bewegen sich Gardinen, sind am Stadtrand hinter den blechernen Hoftoren Stimmen zu hören, übertönt von den Granaten, die aus Mörsern und Geschützen abgefeuert werden, die ihre Bediener in Gärten und Höfen versteckt haben.
„Wenn wir Europa retten wollen, dann muss jetzt etwas passieren“
„Wird euer neuer Kanzler diesem Spinner im Weißen Haus etwas entgegensetzen”, fragt Olkesandr in Anspielung auf die Politik, die US-Präsident Donald Trump in den vergangenen anderthalb Wochen verfolgte. „Er stößt uns das Messer in den Rücken. Wenn wir Europa retten wollen, dann muss jetzt etwas passieren. Geschlafen habt ihr lange genug. Wir halten auch ohne Amerika noch ein wenig durch. Aber Europa muss jetzt geführt werden. Einer muss es machen. Entweder Merz oder Macron – wer denn sonst?”
Oleksandr mag Mitte vierzig, Anfang fünfzig sein. Ingenieur war er einmal. Heute baut er mit an der Verteidigungslinie, die unermüdlich nördlich und westlich des Eisenbahnknotenpunkts aus dem tiefgefrorenen Boden gestampft wird. Damit nicht so viel ukrainisches Blut vergossen werde. „Übrigens auch für eure Freiheit. Hoffentlich weiß Merz das!“