Ukrainer haben im Raum Backnang gute Chancen auf einen Job

Mehr als eine Million Menschen sind aus den Kriegsgebieten nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen hatten in ihrer Heimat gute Berufe. Damit sind sie auch für die Firmen in der Region interessant. Fehlende Deutschkenntnisse sind momentan aber noch ein Hindernis.

Momentan besuchen die meisten Geflüchteten aus der Ukraine noch Integrationskurse wie hier an der Volkshochschule in Winnenden. Bis Jahresende dürften aber viele das Sprachniveau haben, um eine Arbeit aufnehmen zu können. Foto: Gabriel Habermann

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Momentan besuchen die meisten Geflüchteten aus der Ukraine noch Integrationskurse wie hier an der Volkshochschule in Winnenden. Bis Jahresende dürften aber viele das Sprachniveau haben, um eine Arbeit aufnehmen zu können. Foto: Gabriel Habermann

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Eigentlich ist Wladimir Lilitskyi Schauspieler von Beruf, in der ukrainischen Hafenstadt Odessa hatte er ein Engagement am Theater. Doch momentan macht er etwas völlig anderes: Bei der Backnanger Firma Fema, die im Gewerbegebiet Lerchenäcker mit zwölf Mitarbeitern sogenannte Federriegel und Rastbolzen aus Metall herstellt, arbeitet der Ukrainer seit vergangenem Jahr als Helfer in der Produktion.

Sicher kein Traumjob, aber Lilitskyi ist froh, dass er nach seiner Flucht aus dem Kriegsgebiet überhaupt wieder arbeiten kann, und seine Chefin Katrin Justen ist es auch. „Wir sind froh, dass er da ist. Das ist eine Win-win-Situation“, sagt die Fema-Gesellschafterin. Denn der Familienbetrieb hat zurzeit große Probleme, offene Stellen zu besetzen, „obwohl wir gut bezahlen“, wie Justen betont. Als eine Mitarbeiterin vor einem Jahr den Kriegsflüchtling aus der Ukraine vorschlug, war für die Geschäftsleitung deshalb klar: Das probieren wir aus.

Obwohl der neue Mitarbeiter kein Deutsch, sondern nur Englisch sprach, sei er von Anfang an sehr zuverlässig und lernwillig gewesen, berichtet Katrin Justen. Mittlerweile könne er auch schon anspruchsvollere Aufgaben übernehmen. „Es war die absolut richtige Entscheidung, ihn einzustellen“, sagt die Unternehmerin, die die Firma zusammen mit ihrem Mann leitet. Gerne wäre sie bereit, noch eine weitere Arbeitskraft aus der Ukraine einzustellen.

Sprachkurse sind ausgebucht, 800 Personen müssen warten

Grundsätzlich wäre das auch kein Problem, denn im Gegensatz zu Asylbewerbern aus anderen Herkunftsländern dürfen Ukrainerinnen und Ukrainer praktisch vom ersten Tag an in Deutschland arbeiten (siehe Infotext). Trotzdem ist es momentan noch eher eine Ausnahme, dass die Geflüchteten in Deutschland berufstätig sind. Von den rund 2.700 erwerbsfähigen Frauen und Männern aus der Ukraine, die beim Jobcenter Rems-Murr registriert sind, haben nach Angaben von Bereichsleiter Robert Steinbock nur etwa 150 eine Anstellung.

Etwa 800 Personen im Rems-Murr-Kreis besuchen noch gar keinen Integrationskurs

Hauptgrund seien fehlende Sprachkenntnisse. Für die meisten Jobs erwarteten die Arbeitgeber das Sprachniveau B1 (fortgeschrittene Sprachkenntnisse). Ausländer ohne Vorkenntnisse bräuchten dafür in der Regel mindestens ein Dreivierteljahr und die Kurse hätten erst im Herbst begonnen. Rund 800 Personen im Kreis besuchen noch gar keinen Integrationskurs, weil die Kapazitäten der Bildungsträger momentan ausgeschöpft sind.

Auch die Anerkennung der ukrainischen Schul- und Berufsabschlüsse braucht Zeit. Dokumente müssen übersetzt und Qualifikationen verglichen werden. Robert Steinbock hält deshalb auch nichts von Schnellschüssen: „Wichtig ist, dass alles Hand und Fuß hat“, sagt der Mann vom Jobcenter. Schließlich sei es das Ziel, die Geflüchteten, die zu zwei Dritteln weiblich sind, nicht als Hilfskräfte, sondern nach Möglichkeit in ihren erlernten Berufen einzusetzen. Denn das Bildungsniveau der Menschen aus der Ukraine ist spürbar höher als bei Zuwanderern aus anderen Teilen der Erde. Mehr als 70 Prozent hätten einen Beruf erlernt, berichtet Robert Steinbock.

Mittelfristig sieht der Experte deshalb gute berufliche Perspektiven für die Geflüchteten. Das gilt auch für die rund 600 Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Ukraine, die im Rems-Murr-Kreis leben und eine Berufsausbildung beginnen könnten, sobald sie gut genug Deutsch sprechen.

Ausbildung in Deutschland erhöht die Chancen am Arbeitsmarkt

Unterstützung bekommen sie dabei vom Integrationsteam der Industrie- und Handelskammer (IHK) Rems-Murr in Waiblingen, für das Inken Jagusch arbeitet. Die jungen Leute, die sie betreut, seien sehr motiviert und lernbegierig, erzählt sie. Um eine Ausbildung beginnen zu können, sei allerdings das Niveau B2 (selbstständige Sprachkenntnisse) erforderlich. Bis Ende des Jahres dürften die Ersten so weit sein.

Im Zweifel rät Jagusch übrigens auch denjenigen, die in ihrem Heimatland bereits einen Beruf erlernt haben, in Deutschland noch mal eine Ausbildung zu machen: „Es zeigt sich, dass die Chancen am Arbeitsmarkt deutlich besser sind, wenn die Ausbildung in Deutschland absolviert wurde“, sagt Jagusch.

Bei den Arbeitgebern registriert die IHK-Beraterin eine große Bereitschaft, Menschen aus dem kriegsgebeutelten Land einzustellen. Wegen der kulturellen Nähe hätten es die Ukrainer da leichter als Menschen aus afrikanischen oder arabischen Ländern. Allerdings hat mancher Firmenchef die Sorge, dass die Ukrainer nicht auf Dauer in Deutschland bleiben wollen, sondern in ihr Heimatland zurückkehren, sobald es die Lage dort zulässt.

Markus Beier glaubt das nicht: „Ein Teil der Leute wird in Deutschland bleiben“, vermutet der leitende Geschäftsführer der IHK-Bezirkskammer Rems-Murr. Und selbst Geflüchtete, die nur ein paar Jahre arbeiteten, seien in Zeiten des Fachkräftemangels eine Hilfe. Beiers Fazit zu den Zuwanderern aus Osteuropa: „Sie sind uns auf dem Arbeitsmarkt sehr willkommen.“

Webinar für Unternehmen Am Dienstag, 20. Juni, lädt die IHK Rems-Murr von 10.30 bis 11.30 Uhr zu einem kostenlosen Webinar zum Thema berufliche Integration geflüchteter Menschen aus der Ukraine ein. Es informieren Expertinnen und Experten des Jobcenters Waiblingen und des Welcome Centers Stuttgart. Anmeldung per E-Mail bis 15. Juni an inken.jagusch@stuttgart.ihk.de.
Rechtliche Voraussetzungen

Einreise Wegen des russischen Angriffskriegs haben die Länder der Europäischen Union im vergangenen Jahr die Einreisebestimmungen für ukrainische Staatsbürger gelockert. So ist eine Einreise nach Deutschland für maximal 90 Tage ohne Visum möglich. Eine Arbeitserlaubnis ist damit aber noch nicht verbunden. Diese Regelung gilt zunächst bis Juni 2024.

Arbeitserlaubnis Auf Antrag erhalten Geflüchtete aus der Ukraine von den Ausländerbehörden ohne Asylverfahren einen Aufenthaltstitel, der in der Regel für zwei Jahre ausgestellt wird. Dieser beinhaltet unter anderem eine Arbeitserlaubnis, Zugang zu Sozialhilfe und medizinischer Versorgung sowie Bildung für Kinder. Diese Mindeststandards gelten in allen EU-Ländern.

Förderung Unternehmen, die Geflüchtete einstellen, können eine Förderung erhalten. So finanziert das Jobcenter erforderliche Qualifizierungen wie zum Beispiel einen Gabelstaplerführerschein. Zusätzlich können Arbeitgeber auch Zuschüsse zu den Lohnkosten erhalten, wenn Beschäftigte in den ersten Monaten noch keine volle Arbeitsleistung erbringen können.

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Erstellt:
15. Juni 2023, 06:00 Uhr

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