Und plötzlich hat sie vier Geschwister
Heike Grupp ist in Backnang geboren und in Schwaikheim aufgewachsen. Doch erst mit 31 hat sie von ihrer griechischen Staatsbürgerschaft erfahren. Als sie 15 Jahre später endlich ihre leiblichen Eltern findet, erfährt sie, dass sie noch zwei Brüder und zwei Schwestern hat.

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Heike Grupp lernt per Videochat ihre gefundenen Geschwister kennen. Foto: Alexander Becher
Von Anja La Roche
Backnang. Die Geschichte von Heike Grupp ist es wert, in einem Roman zu stehen. Und genau das versucht die in Winnenden wohnende Frau derzeit – ihre außergewöhnliche Familiengeschichte in Worte zu fassen. „Ich habe das Schreiben angefangen, um zu verarbeiten“, erzählt sie. Zu verarbeiten, dass sie im Alter von etwa sechs Jahren auf unschöne Weise durch die Nachbarskinder von ihrer Adoption erfuhr. Und zu verarbeiten, dass sie erst mit 47 Jahren ihre leiblichen Eltern gefunden hat. Ihre leibliche Mutter konnte sie nicht mehr persönlich kennenlernen. Die junge Griechin hatte damals in der Spinnerei Adolff in Backnang gearbeitet.
In Backnang hatte sie auch das Mädchen Agapi Kiotzenoglou zur Welt gebracht. Dieses trägt heute den Namen Heike Grupp, ist 51 Jahre alt und sitzt am Wohnzimmertisch ihres Reihenhauses in Winnenden. Dort wohnt Grupp mit ihrer 8-jährigen Tochter und ihrem 16-jährigen Sohn. Sie erzählt offenherzig und mit schwäbischem Beiklang. Der ihr widerfahrene Schmerz ist ebenso zu fühlen wie das Glück, das ihr die vier neu gefundenen Geschwister ins Leben gebracht haben. Vor ihr auf dem Tisch liegen ihre Adoptionspapiere und weitere Akten.
Als Baby wurde Heike Grupp zunächst im Backnanger Krankenhaus betreut
Es begann, als die 30-jährige Sofia Kiotzenoglou, 1939 im griechischen Milotopos geboren, Arbeit in der Spinnerei in Backnang fand. Sie war damals in einem Arbeiterwohnheim untergebracht. Mit Verdacht auf Nierenkoliken kam sie ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass sie bereits in den Wehen lag. Sie hatte nach eigener Aussage die Schwangerschaft nicht bemerkt. Am 15. November 1970 brachte sie ein Mädchen zur Welt, das sie Agapi nannte. Im Krankenhaus wurde bei der Frau Tuberkulose diagnostiziert. Direkt nach der Entbindung brachte man sie deshalb in die Lungenklinik Schillerhöhe in Stuttgart, wo sie etwa sieben Monate verbringen musste.
Der kleine Säugling Agapi wurde zunächst im Kinderzimmer des Krankenhauses in Backnang versorgt. Später brachte man ihn ins Kinderheim Weigold bei Schorndorf. „Der Mutter wurde offenbar nahegelegt, das Kind doch zur Adoption freizugeben“, heißt es in der Akte, die den Fall von Heike Grupp dokumentiert. Im Mai 1971 willigte Sofia Kiotzenoglou in die Adoption ein, heißt es weiter.
Als man für das kleine Mädchen Pflegeeltern gefunden hatte, habe die Mutter dann allerdings doch versucht, die Adoption zu verhindern. Sie habe ihre Tochter oft im Kinderheim besucht und klar gemacht, dass sie diese gerne zu sich nehmen würde. Dennoch konnten die Eheleute Weiffenbach im November 1971 das Mädchen adoptieren. Statt Agapi Kiotzenoglou hieß es von da an Heike Weiffenbach. „Sie hat lange um mich gekämpft“, weiß Heike Grupp heute über ihre leibliche Mutter zu sagen.
Die kleine Heike wuchs in Schwaikheim als einziges Kind bei ihren Pflegeeltern auf. Der Tag, bis zu dem sie dachte, sie seien ihre biologischen Eltern, ist ihr auch heute noch ins Gedächtnis eingebrannt. Dies beschreibt ein Auszug aus Heike Grupps Texten: „Eine Handvoll Kinder standen, schon fast drohend, um ein Mädchen und grölten es lachend an: ‚Pfui, du bist ein Adoptivkind, du bist ein Adoptivkind‘.“ Erst 2002, im Alter von 31 Jahren, erfuhr Heike Grupp von ihrer griechischen Staatsbürgerschaft. Damals begann sie, bei einer Versicherung zu arbeiten. Auf die Suche nach ihrer leiblichen Familie machte sie sich jedoch erst viel später. Ihre Adoptivmutter habe ihr ein schlechtes Gewissen gemacht, habe gefordert, die Suche ihrem herzkranken Vater zuliebe nicht zu starten. Erst als dieser 2017 verstarb, ging Heike Grupp den Indizien nach. Als sie Einsicht in das Urteil ihrer Adoption erhielt, hatte sie viele Fragezeichen im Kopf: „Wo war die Unterschrift ihrer leiblichen Mutter? Überall nur die der Adoptiveltern. Da stimmte doch was nicht. Es fehlten jede Menge an Schriftstücken.“ Für Heike Grupp ist heute klar, dass es da nicht mit rechten Dingen zugegangen war.

Agapi, Ilias und Heike (von links) bei einem gemeinsamen Ausflug nach Edessa in Griechenland. Hier hat die Mutter der Geschwister 1969 ihren Pass erhalten. Foto: privat
Die spät vereinten Geschwister haben sich seither kennen und schätzen gelernt
Heike Grupp zeigt auf ihrem Smartphone Fotos von ihrer ersten Reise nach Griechenland, dem ersten Treffen mit ihren Verwandten im September 2019. „Wir sind aufeinander zugegangen und haben uns umarmt“, erinnert sie sich. Die äußerliche Ähnlichkeit der Geschwister ist unverkennbar. Und Heike Grupp kommt aus dem Erzählen nicht mehr heraus. Es sind zu viele schöne Momente, die sie seitdem mit den gefundenen Geschwistern erleben konnte.
Auch mit der anderen Schwester, die in England lebt, teilt sie viel. „Wir haben viele Gemeinsamkeiten und können miteinander über unsere Probleme reden“, freut sich Heike Grupp. Diese Schwester (sie will namentlich nicht genannt werden) wurde später ebenfalls zur Adoption freigegeben und lernte die leibliche Familie zeitgleich mit Heike Grupp kennen. Lediglich mit dem vierten Geschwister sei die Kommunikation schwer; der zweite Bruder kann nämlich nur die griechische Sprache sprechen.
Trotz Schicksalsschlägen lacht die deutsche Griechin herzlich. Sie habe ihren Frieden geschlossen mit ihrer Adoption. Denn „es ist offensichtlich, dass ich weggenommen wurde“, sagt sie. „Ich ärgere mich bloß, dass ich nicht schon 2002 angefangen habe zu suchen.“ Dann hätte sie ihre Mutter Sofia Kiotzenoglou noch kennenlernen können. Für das Auffinden ihrer leiblichen Familie ist sie ihrer Schulfreundin Despina besonders dankbar, ohne die sie sich nie an die TV-Sendung gewandt hätte. „Ohne sie würde ich jetzt immer noch herumeiern“, sagt Heike Grupp.
Heike Grupp spielt mit dem Gedanken, in Griechenland zu leben
Leicht hat die zweifache Mutter es aber auch heute nicht: 2021 erlag ihr Ehemann einem Gehirntumor. Und das Verhältnis zur Pflegemutter ist weiterhin schlecht. Da wundert es nicht, dass sie mit dem Gedanken spielt, nach Giannitsa oder Milotopos zu ihren Geschwistern zu ziehen, sofern es dort eine geeignete Ausbildung für ihre Tochter gibt. Ihr Sohn, der eine geistige Behinderung hat und zurzeit unter der Woche in einem Internat betreut wird, würde dann vermutlich in Deutschland bleiben. „Vielleicht kommt meine Schwester Agapi aber auch nach Deutschland“, so Heike Grupp. Das alles ist noch Zukunftsmusik. Und wer weiß – bis dahin kann man ihre emotionale Geschichte womöglich in aller Ausführlichkeit in ihrem Roman nachlesen.