Vom bunten Beziehungsarbeitsleben
Ute Haußmann hat seit 2007 die Philadelphia-Kinderheimat in Murrhardt geleitet und den Stab mittlerweile an Sven Barner weitergegeben – Gelegenheit, um über Kontinuität und Wandel in der Kinder- und Jugendhilfe und Herausforderungen sowie Erfüllendes des Berufs zu sprechen.
Von Christine Schick
Murrhardt. Ute Haußmann hat fast ihr halbes Leben in der Philadelphia-Kinderheimat verbracht. 31 Jahre war die Erzieherin und Diakonin dort tätig. Im Vergleich zu den Anfängen in dem Murrhardter Kinderheim stellt die heute 66-Jährige fest: „Die Themen der Kinder und Jugendlichen haben sich aus meiner Sicht nicht so stark verändert, aber der gelebte Alltag in der Einrichtung hat sich durchaus gewandelt.“ Angelehnt an die Idee einer Großfamilie hat sie einen Großteil ihrer Lebens- und Freizeit in den Dienst der Betreuungs- und Beziehungsarbeit gestellt. Als Erzieherin hat sie mit in der Wohngruppe, für die sie Ansprechpartnerin war, gelebt, als Leiterin später eine eigene Wohnung in der Einrichtung bezogen. „Das heißt, ich habe auch auf ein Stück weit auf ein Privatleben verzichtet, aber das bedeutet nicht, dass ich ärmer oder schlechter gelebt habe, sondern mich für einen bestimmten Lebensstil entschieden habe.“
Schon länger sind nicht mehr nur zwei, sondern je nach konkreter Konstellation vier oder mehr Betreuerinnen und Betreuer für die Wohngruppen der Kinder und Jugendlichen verantwortlich. Und das Geschlechterverhältnis ist ausgeglichener als früher, sprich es arbeiten mehr Männer als früher im Team mit. „Die Rahmenbedingungen ermöglichen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein anderes Privatleben und für die Kinder liegt die Chance darin, unterschiedliche Erwachsene mit verschiedenen Lebensmodellen zu erleben“, sagt sie. Der Preis dieser größeren Vielfalt, die sich auch durch arbeitsrechtliche Regelungen und Anpassungen ergeben hat, ist ein größerer Aufwand an Koordination.
Hinzu kommt der Anspruch, den Kindern und Jugendlichen viele Möglichkeiten zu bieten – sei es beispielsweise über Vereine vor Ort, in denen sie aktiv werden können, sei es in Bezug auf ihre Situation durch Biografiearbeit sowie eine Einbindung der Familie und Elternarbeit. „Normalerweise besteht ein Kontakt zur Familie, auch wenn es Ausnahmen gibt.“ Manche ihrer Schützlinge kehren nach einer gewissen Zeit in die Familie zurück, manche bleiben, bis sie eine Ausbildung beginnen, teils auch darüber hinaus. Ob sie nur eine überschaubare Zeit oder sehr lang in der Philadelphia-Kinderheimat leben, „entscheidend ist, dass sie einen guten Weg ins Leben finden“, sagt Ute Haußmann.
Besonders freut sie sich, wenn sie Besuch von einem ehemaligen Schützling bekommt, der genau das geschafft hat – trotz einer vielleicht nicht so einfachen Schulzeit eine gute Ausbildung und Anstellung gefunden hat oder mit der eigenen Familie, mit Ehepartner und Kindern, vor der Tür steht. Auch sei es schon vorgekommen, dass die Eltern nach Murrhardt gezogen seien, um ihr Kind begleiten zu können, aber es nicht aus der bisherigen Umgebung reißen zu müssen, erzählt Haußmann von weiteren positiven Beispielen. Schwer werde es, wenn Familie und Einrichtung solch einen gemeinsamen Weg nicht finden können und im Streit miteinander liegen. Auch kann es sein, dass Jugendliche Entscheidungen treffen, die ihre Zukunft aus ihrer Sicht nicht besser machen. Letztlich sei ihr aber bewusst, nicht alles regeln zu können und auch nicht zu müssen. Ihr Glaube hat ihr dabei geholfen, diese Balance zwischen intensiver Beziehungsarbeit und einem gesunden Realismus für sich zu finden und zu halten. „Es ist einfach schön, mit Menschen zusammen zu sein, es gibt so viele schöne Erlebnisse.“ Beispielsweise ein komplett ausgefüllter Englischtest, die Wahl zum Klassen- oder Schulsprecher – und einfach, gemeinsam zu lachen. Diese gemeinsame Zeit mache das Leben bunt und reich, sagt die 66-Jährige und betont, wie viele Gaben die Kinder und Jugendlichen mitbringen.
Im Juli und August hat Ute Haußmann gemeinsam mit Sven Barner gearbeitet, um einen guten Übergang zu schaffen, wie sich das für eine Übergabe beim Staffellauf gehört. Der 30-jährige Erzieher und Sozialwirt wusste früh, dass seine berufliche Heimat in der Jugendhilfe ist. Nach seiner vierjährigen Ausbildung in der Pfalz hat er in verschiedenen Einrichtungen und Gruppen wie beispielsweise mit Flüchtlingen oder jungen Menschen in einem jugendpsychiatrischen Betreuungskontext gearbeitet. Mit der Zeit begann er, selbst Auszubildende zu betreuen. „Ich habe gemerkt, dass mir diese Arbeit mit Erwachsenen sehr gefällt“, erzählt er. Also schloss er eine dreijährige Weiterbildung zum Sozialwirt an. Nun hat er als Leiter der Kinderheimat die Chance, beide Bereiche zu verbinden. Gemeinsam mit den Verantwortlichen des sogenannten Fachdiensts als Schnittstelle zum Jugendamt heißt es, die pädagogische Arbeit insbesondere auch bei Problemen zu begleiten und Lösungen zu finden – für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Schützlinge. „Die Beziehungsarbeit hier ist sehr viel familienähnlicher, dadurch entsteht natürlich auch Reibung“, sagt er. Teil seines Parts ist, bei Schwierigkeiten von außen mit einer gewissen Nüchternheit draufzuschauen. Zugleich kann er aber durch seine eigene Erfahrung gut nachvollziehen, „wie man sich in der Betreuungssituation fühlt“.
Und dann ginge es um konkrete Vorschläge, aus der Situation das Beste zu machen. Darüber hinaus möchte Sven Barner schauen, was er den Kindern und Jugendlichen an Anregungen in Bezug auf die Freizeitgestaltung und Hobbys wie Wandern, Klettern oder Musik geben kann. Die Idee ist, den einen oder anderen dabei zu motivieren und anzustecken. Gelingt es, eine gute Beziehung zu den Kindern aufzubauen und eigene Impulse einzubringen, fühlt man sich in und mit seiner Arbeit wohl und kann auch man selbst sein, beschreibt Sven Barner das perfekte Match.
Zugute könnte ihm und dem Team dabei kommen, dass nach der anstrengenden Zeit während Corona nun wieder etwas mehr Ruhe eingekehrt ist. Ein erstes Projektfeld für die gesamte Gemeinschaft inklusive Außengruppe gibt es schon in der direkten Umgebung – den Park rund ums Haus pflegen und gestalten.
Der 30-Jährige hat einen weiteren Wunsch – zu überlegen beziehungsweise zu prüfen, ob die Philadelphia-Kinderheimat ihr Angebot erweitern kann. „In der Jugendhilfe herrscht ein großer Engpass, die Lage ist superangespannt.“ Barner berichtet, dass die Jugendämter händeringend nach Plätzen suchen und so gut wie jede Einrichtung belegt sei. Zwei Faktoren wirken zurzeit besonders limitierend – der Mangel an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und die angespannte Lage auf dem Immobilienmarkt. Unter Umständen nicht helfen zu können, falle schwer. Zwar gebe es kurzfristig die Möglichkeit, eine Lösung zu finden, aber ein Angebot mit Blick auf eine längerfristige Perspektive sei wichtig und gerade diese Plätze fehlten.
Träger Die Philadelphia-Kinderheimat in Murrhardt besteht seit 1956. Sie ist eine staatlich anerkannte Jugendhilfeeinrichtung und dem Evangelischen Fachverband Kinder, Jugend und Familie im Diakonischen Werk angeschlossen. Träger ist der Philadelphia-Verein in Ditzingen.
Gemeinschaft Zurzeit leben 17 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sieben und 22 Jahren in der Kinderheimat. Die drei Wohngruppen inklusive einer Außengruppe werden von einem 16-köpfigen Team, davon elf Erzieherinnen und Erzieher, betreut.