Vom Matrosen zum Revolutionär

Exponate mit Bezug zu Backnang bereichern Stuttgarter Ausstellung zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Vor 100 Jahren ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen – nach vier Jahren mörderischer Kämpfe. Am 11. November 1918 unterzeichneten Vertreter der deutschen Regierung unter Leitung des Württembergers Matthias Erzberger den Waffenstillstand. Eine Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart erinnert an das Kriegsende. Zu sehen sind dort auch einige Exponate mit Bezug zu Backnang.

Christian Westerhoff (links), Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte, und Roland Idler mit dem Bild, das an die Dienstzeit von Idlers Vater bei der Kriegsmarine erinnert. Fotos: A. Fechter (1), R. Idler (2)

Christian Westerhoff (links), Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte, und Roland Idler mit dem Bild, das an die Dienstzeit von Idlers Vater bei der Kriegsmarine erinnert. Fotos: A. Fechter (1), R. Idler (2)

Von Armin Fechter

BACKNANG/STUTTGART. Die Stuttgarter Ausstellung verfolgt einen speziellen Ansatz: Sie thematisiert das Jahr 1918 als Ganzes. Denn in diesem Jahr traf besonders viel zusammen: enorme Schwankungen in der Stimmungslage der Bevölkerung ebenso wie zentrale Weichenstellungen für das 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa. So umschreibt Christian Westerhoff, Leiter der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek, die Idee, die hinter der Präsentation steckt.

Als mögliche Exponate standen bei der Gestaltung der Ausstellung viele schriftliche Dokumente, Plakate und Bücher zur Verfügung. „Wir sind eine Bibliothek, nicht ein Museum“, erläutert Westerhoff. Da fügte es sich glücklich, dass eine Kollegin eine Seite aus der Backnanger Kreiszeitung vom 1. August 2014 vorliegen hatte. In dem betreffenden Bericht schilderte Roland Idler, Leiter des Arbeitskreises Erinnern und Gedenken im Heimat- und Kunstverein und Ortsbeauftragter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, den ungewöhnlichen Werdegang seines Vaters im Ersten Weltkrieg. Der Kontakt war dann rasch hergestellt, und so fanden einige anschauliche Motive aus Backnang den Weg nach Stuttgart.

Rückblick offenbart Widersprüchlichkeiten

Gleich am Zugang zur Ausstellung erblickt der Besucher beispielsweise das gerahmte Erinnerungsbild von Gottlieb Idler, der sich später mit Vornamen Ernst nannte. Es erinnert an seine Dienstzeit bei der Marine und spiegelt, so der erläuternde Text, die Ambivalenz der Kriegserinnerung in der Weimarer Republik wider. Denn Idler nahm 1918 am Matrosenaufstand teil – und dennoch hielt er das montierte Erinnerungsbild mit dem Text „Ruft einst das Vaterland uns wieder, so legen wir die Arbeit nieder und folgen treu der Flagge dann“ in Ehren.

Idler, Jahrgang 1897, stammte von einem Bauernhof bei Mainhardt-Ammertsweiler. 1917 wurde der gelernte Metzger zur kaiserlichen Flotte eingezogen. Westerhoff: „Ein Schwabe bei der Marine – wo kriegt man das sonst?“ Idler wurde dort nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, in der Kombüse eingesetzt. Vielmehr machte er einen Signalgast-Lehrgang. Signalgasten übermittelten Nachrichten mit Signalflaggen oder Scheinwerfern von Schiff zu Schiff oder zur Küstensignalstation. Seine Dienstzeit vom 1. April 1917 bis 3. März 1919 verbrachte er in Kiel. Dort wurde er auf den Kleinen Kreuzer S.M.S. Thetis, ein Artillerie-Schulschiff, kommandiert (S.M.S. steht für Seiner Majestät Schiff). Die großen Schlachten waren da schon geschlagen. Die Flotte lag in den Häfen. Dennoch mussten die Matrosen einen harten, eintönigen Dienst verrichten. Die Stimmung unter ihnen verschlechterte sich zusehends. Mängel in der Verpflegung kamen dazu. Im August 1917 gab es eine erste Revolte, die blutig endete. Kurz vor Kriegsende 1918 wollte die Admiralität die Flotte dann ohne Wissen der Reichsregierung nochmals einsetzen. Die Offiziere sahen es als „Ehren- und Existenzfrage der Marine“ an, „im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben“, erläutert Westerhoff. Die Matrosen verweigerten jedoch den Gehorsam. In Kiel versammelten sie sich zusammen mit den Arbeitern zu großen Protestkundgebungen.

Ein Foto zeigt Idler, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett in der Hand, hinter einer Tafel mit den Worten „Bolschewicki-Thetis“ und „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“, die Forderungen der Französischen Revolution. Auf einem anderen Foto ist er, eine Pfeife im Mund, beim Kartenspielen zu sehen. Als Unterlage diente eine Reichskriegsflagge – ein Tun, das vorher streng geahndet worden wäre, „eine Respektlosigkeit sondersgleichen“, wie Westerhoff erklärt. Idler stand freilich nicht in vorderster Front; es sei wohl eher, so Roland Idler, aus einer Gruppendynamik heraus darum gegangen, „Revolution zu spielen“. Immerhin aber bekam Ernst Idler von den Revolutionären einen Ausweis ausgestellt, der Patrouillen verpflichtete, ihm nötigenfalls Schutz und Hilfe zu leisten.

In mehreren Vitrinen beleuchtet die Ausstellung jeweils einzelne Themenbereiche, angefangen von den Voraussetzungen zu Jahresbeginn 1918, nachdem der „russische Bär erlegt“ war und neue Hoffnung aufkeimte, im Westen die entscheidende Schlacht schlagen zu können, bis zu den Folgen mit dem Kampf rechtsgerichteter Kräfte gegen den Friedensvertrag von Versailles. Eines der Themen ist die Versorgungslage der Bevölkerung, die wegen der britischen Seeblockade immer schlechter wurde. Die Lebensmittelknappheit führte zu Mangel und Unterernährung. Der Winter 1916/17 galt als Hunger- oder Steckrübenwinter. 800000 Deutsche kamen bis Kriegsende um. Kochbücher lieferten derweil Ratschläge für die fleischlose Küche. Lebensmittel wurden rationiert und Ersatzstoffe gesucht. In der Ausstellung steht ein Leiterwagen mit Körben voll Eicheln und Laub: Aus den Eicheln wurde ein Kaffeeersatz gewonnen, Laubheu diente als Viehfutter, Brennnesseln wurden gesammelt, um sie wie Spinat zu kochen oder um Garne und Kleidung herzustellen. Daneben ein Eimer mit Torf, der ebenfalls als Rohstoff für „Textilien“ diente.

Eine Vitrine ist dem Kriegsgeschehen gewidmet. Dort stößt der Besucher auf einen Koffer mit Fundstücken aus dem Argonnerwald im nordöstlichen Frankreich. Es sind Überreste von Ausrüstungsteilen, die dem lange Zeit vermissten Steinbacher Wilhelm Härer gehört hatten, darunter Patronen, Gasmaske, die halbe Erkennungsmarke. Härer fiel am 10. Oktober 1918 bei schweren Kämpfen im Zuge der Gegenoffensive, die dem gescheiterten deutschen Großangriff, der Michael-Offensive, folgte. Amerikanische Soldaten, die Nachforschungen über ein Stoßtruppunternehmen anstellten, stießen 90 Jahre danach auf die Teile und konnten so das Schicksal des Vermissten aufklären. Die Fundstücke kamen nach Backnang, wo sie heute im Stadtarchiv aufbewahrt werden.

Ernst Idler wiederum kehrte, wie sein Sohn berichtet, im März 1919 in die Heimat zurück. 1925 heiratete er Karoline Holzwarth (1903 bis 1978) aus Backnang und übernahm Metzgerei und Gastwirtschaft der Schwiegereltern in der Gerberstraße 13. Er starb 1978 in Backnang.

Blick auf Zeitgeschichte Info Die Ausstellung „1918: Zwischen Weltkrieg und Revolution. Ein Entscheidungsjahr für Deutschland“ ist bis 29. November in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 8, zu sehen: montags bis freitags 8 bis 20 Uhr, samstags 9 bis 13 Uhr. Das SWR-Fernsehen berichtet heute in der Sendung „Baden-Württemberg aktuell“ (Beginn: 19.30 Uhr) über die Ausstellung. Dazu wurden einige Exponate aufgenommen und Interviews mit Christian Westerhoff und Roland Idler geführt. Die Bibliothek für Zeitgeschichte in der Landesbibliothek ist aus der 1915 gegründeten „Weltkriegsbücherei“ hervorgegangen, die der aus Ludwigsburg stammende Industrielle Richard Franck, Inhaber des Franck’schen Kaffee-Unternehmens, initiiert hatte. Seit 1948 trägt sie den Namen Bibliothek für Zeitgeschichte. Die Sammlung der BfZ lebt von privaten Spenden. Besonderes Interesse besteht an Lebensdokumenten wie etwa Fotoalben, Tagebüchern und Briefe.
Fundstücke aus dem Argonnerwald mit der halben Erkennungsmarke von Wilhelm Härer.

Fundstücke aus dem Argonnerwald mit der halben Erkennungsmarke von Wilhelm Härer.

Karten spielende Matrosen mit der Reichskriegsflagge als Unterlage: Ernst Idler sitzt links.

Karten spielende Matrosen mit der Reichskriegsflagge als Unterlage: Ernst Idler sitzt links.

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Erstellt:
10. November 2018, 06:00 Uhr

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