Studie zu Fettleibigkeit
Warum Adipositas neu diagnostiziert und definiert werden muss
Ab wann ist man fettleibig? An der Definition dafür gibt es Kritik - auch weil manche Menschen zwar stark übergewichtig, aber trotzdem weitgehend gesund sind. Eine Expertenrunde schlägt Anpassungen vor.
Von dpa/Markus Brauer
Derzeitige Diagnosen von Fettleibigkeit stützen sich auf den sogenannten Body-Mass-Index (BMI). Der ist aber Experten zufolge kein zuverlässiges Maß vor allem für die Gesundheit eines Menschen. Eine Medizinergruppe schlägt deshalb vor, die Diagnoserichtlinien für Adipositas grundlegend zu überarbeiten.
Mehr als nur der BMI
Neben dem BMI sollten Daten zum Körperfett – etwa zum Taillenumfang oder als direkte Fettmessung – herangezogen werden, empfiehlt die Gruppe im Fachjournal „The Lancet Diabetes & Endocrinology“.
Für die Berechnung des BMI wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Meter zum Quadrat geteilt. Derzeit gilt ein BMI von über 30 bei Menschen europäischer Abstammung als Hinweis für Fettleibigkeit.
Schon seit längerer Zeit wird kritisiert, dass der Wert kein direktes Maß für Fett ist, dessen Verteilung im Körper nicht widerspiegelt und keine Informationen über Gesundheit und Krankheit auf individueller Ebene liefert.
An bestimmten Stellen ist überschüssiges Fett gefährlicher
„Sich bei der Diagnose von Fettleibigkeit allein auf den BMI zu verlassen, ist problematisch, da manche Menschen dazu neigen, überschüssiges Fett an der Taille oder in und um ihre Organe wie die Leber, das Herz oder die Muskeln zu speichern“, erklärt Mitautor Robert Eckel von der University of Colorado in Aurora.
Das bedeute ein höheres Gesundheitsrisiko als überschüssiges Fett direkt unter der Haut in Armen, Beinen oder in anderen Körperbereichen. Auch hätten Menschen mit überschüssigem Körperfett nicht immer einen BMI, der auf Fettleibigkeit hinweise, sodass ihre Gesundheitsprobleme unbemerkt bleiben könnten.
Das empfehlen Experten
Die Expertengruppe empfiehlt, statt nur den BMI einen der drei folgenden Diagnosewege zu nutzen:
- Mindestens eine Messung von Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe zusätzlich zum BMI.
- Mindestens zwei Messungen zu Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe unabhängig vom BMI.
- Direkte Messung des Körperfetts zum Beispiel durch eine Knochendichtemessung unabhängig vom BMI.
- Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne allerdings ohne weitere Bestätigung von übermäßigem Körperfett ausgegangen werden.
Adipositas ist eine Krankheit
Neben den neuen Diagnoserichtlinien schlagen die Experten um Francesco Rubino vom King’s College London zwei neue Diagnosekategorien für Adipositas vor:
- Klinische Adipositas für die chronische, mit einer anhaltenden Funktionsstörung von Organen einhergehende Krankheit
- Präklinische Adipositas für die vorangehende Phase mit Gesundheitsrisiken, aber noch keiner anhaltenden Krankheit. Hintergrund sei unter anderem, dass in beiden Phasen unterschiedliche therapeutische Strategien erforderlich seien.
Der Vorschlag der „Commission on Clinical Obesity“ mit Medizinern verschiedener Fachgebiete wird von 76 Fachgesellschaften und Patientenvertretungen weltweit unterstützt, wie es in dem Beitrag heißt. Rubino, Vorsitzender der Kommission, erklärt: „Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit ist, führt in die Irre, weil sie von einem unplausiblen Alles-oder-Nichts-Szenario ausgeht, bei dem Adipositas entweder immer eine Krankheit ist oder nie eine Krankheit.“
Die Realität sei differenzierter. Bei einigen fettleibigen Menschen bleibe die normale Funktion der Organe und die allgemeine Gesundheit langfristig erhalten, während andere direkt schwere Krankheiten entwickelten.
Versorgung muss optimiert werden
„Wenn Adipositas nur als Risikofaktor und niemals als Krankheit betrachtet wird, kann dies dazu führen, dass Menschen, die allein aufgrund ihrer Adipositas erkrankt sind, der Zugang zu einer zeitnahen Versorgung verwehrt wird“, führt Rubino weiter aus. „Andererseits kann eine pauschale Definition von Adipositas als Krankheit zu einer Überdiagnose und einem ungerechtfertigten Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Eingriffen führen, die dem Einzelnen schaden und der Gesellschaft enorme Kosten verursachen können.“
Menschen mit klinischer Adipositas benötigten schnellen Zugang zu Therapien, solche mit präklinischer Adipositas individuelle Strategien für ein vermindertes Risiko für Erkrankungen.
Was die neue Studie bewirken kann
Die neue Unterteilung könne eine rationale Zuweisung von Gesundheitsressourcen und eine faire, medizinisch sinnvolle Priorisierung der verfügbaren Behandlungsoptionen erleichtern. Die Relevanz sei groß: Es gebe geschätzt weltweit mehr als eine Milliarde Menschen mit Adipositas, heißt es in „The Lancet Diabetes & Endocrinology“.
Dabei spiele Fettleibigkeit verstärkt schon bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. 1975 waren demnach nur etwa 4 Prozent der 5- bis 19-Jährigen weltweit übergewichtig oder fettleibig, im Jahr 2016 bereits mehr als 18 Prozent. Etwa die Hälfte der Kinder mit Fettleibigkeit leide während des gesamten Lebens an Adipositas.
Lebenslange Folgen von Fettleibigkeit
Bedenklich sei das unter anderem deshalb, weil Adipositas bei Kindern und Jugendlichen das spätere Risiko für Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Schlaganfall, bestimmte Arten von Krebs sowie Lungen- und Nierenerkrankungen erhöhe. Je höher der BMI in der Kindheit, desto höher sei das Risiko für solche potenziell lebensverkürzenden Probleme im Erwachsenenalter.
Die frühe Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen müsse oberste Priorität für die Gesundheitssysteme haben, um die Belastung für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Volkswirtschaft zu verringern, betonen die Forscher.
Info: Warum neigen Menschen zu Übergewicht?
Übergewicht Die grundsätzliche Frage lautet: Warum sind manche Menschen schlank und warum neigen andere zu Übergewicht? Forscher aus Basel haben hierzu jüngst eine wegweisende Entdeckung gemacht. Sie haben eine Art Schalter ausfindig gemacht, der den Prozess der Fettverbrennung im Körper steuert. Bei diesem molekularen Schalter handelt es sich um Arf1. Die Abkürzung steht für Adenosyl-Ribosylierungs-Faktor 1. Die Entdeckung könnte dazu beitragen, Krankheiten wie Diabetes und bestimmte Krebsarten besser zu verstehen. Die Studie ist im Fachmagazin „Nature Cell Biology“ veröffentlicht worden.
Arf1 Das Protein Arf1 ist seit langem bekannt. „Wir wussten bereits, dass es einige Funktionen beim Golgi-Apparat übernimmt, der Sortierstation in der Zelle. Nun haben wir entdeckt, dass Arf1 auch den Energiestoffwechsel in den Mitochondrien steuert“, sagt Ludovic Enkler von der Universität Basel. „Arf1 sorgt dafür, dass die Lipide, von den Lipid-Tröpfchen in die Mitochondrien transportiert werden.“
Bedeutung von Fett Jeder Organismus benötigt Energie zum Leben. Der Mensch nimmt Energie über die Nahrung auf und verwendet sie teilweise direkt oder speichert sie im Körper. Während Glucose (das Kohlenhydrat Einfachzucker) als schneller Energielieferant direkt zur Verfügung steht, werden Fette als Energievorrat angelegt. Unsere Zellen speichern Fette – die so genannten Lipide – in Form von Tröpfchen.
Verwertung von Fett Wie unser Körper Nahrung verwertet, ist entscheidend für die gesamte Energiegewinnung und den Fettauf- bzw. -abbau. Beim Fettstoffwechsel kommt einem bestimmten Protein (Eiweißmolekül) eine zentrale Rolle zu, wie die Forscher zeigen. ATP– die Abkürzung steht für Adenosintriphosphat. Es steuert die Speicherung bzw. Umwandlung der Fette in Energie.
Energie ATP wird im Organismus als der wichtigste Energiespeicher in den Zellen benötigt. Doch wie viel Energie benötigt der Körper aus seinem ATP-Energievorrat? Wie viel Fett wird in ATP umgewandelt? Wann wird der Umwandlungsprozess gestartet und wann beendet? Dieser komplexe Prozess läuft folgendermaßen ab: Die überschüssige Energie speichert unser Körper in Form von Fett. Bei Energiebedarf – zum Beispiel, weil wir Sport treiben – zapft der Körper diese Fettreserven an. Dazu wird in den Mitochondrien – den Kraftwerken des Körpers – Fett in das Molekül ATP umgewandelt, dass den Zellen Energie liefert.
Störungen Wie sensibel der Fettstoffwechsel ist, zeigt sich besonders am Beispiel von Fettstoffwechselstörungen. Bereits winzige Fehler im Fettstoffwechsel können erhöhte Cholesterinwerte (Blutfettwerte) nach sich ziehen und damit das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen steigern oder Krankheiten wie Fettleibigkeit (Adipositas) oder Diabetes auslösen.
Arf1-Schalter Arf1 spielt eine zentrale Rolle bei dem Prozess der Energieverbrennung von Fett in ATP im Körper. „Arf1 hält damit den Stoffwechsel in Balance“, erklärt Anne Spang vom Biozentrum der Universität Basel. Damit dieses umfassende System funktioniert, müssten verschiedene Prozesse genau aufeinander abgestimmt ablaufen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass Arf1 die Umgebung der Kontaktstelle zwischen Fett-Tröpfchen und Mitochondrien so verändert, dass die Fette in die Mitochondrien gelangen können. Das heißt: Signalisiert der Körper Energiebedarf, lässt Arf1 die Fett-Moleküle in sein Kraftwerk hinein. Sobald der Energiebedarf gedeckt ist, wird der Transport gestoppt. Fehlt Arf1 oder ist es überaktiv, gerät das ganze System aus dem Gleichgewicht. Eine Folge kann auch Übergewicht sein.