Kirchen in Deutschland

Warum Religionsunterricht immer weniger Schüler interessiert

Die Kirchen in Deutschland verlieren Mitglieder und Einfluss. Die Entwicklung spiegelt sich auch an den Schulen wider: Die Teilnahme am Religionsunterricht geht stetig zurück.

ine Lehrerin schreibt mit Kreide einen Stundenplan mit Religionsunterricht an eine Tafel.

© dpa/Friso Gentsch

ine Lehrerin schreibt mit Kreide einen Stundenplan mit Religionsunterricht an eine Tafel.

Von Markus Brauer

Die Zahl der Schüler an öffentlichen Schulen in Deutschland, die einen christlichen Religionsunterricht besuchen, nimmt immer weiter ab. Das zeigen aktuelle Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutschland.

Stetiger Rückgang

  • Demnach nahmen im vergangenen Schuljahr insgesamt 28,5 Prozent der Schüler (etwa 1,9 Millionen) der ersten zehn Klassenstufen am evangelischen und 25,2 Prozent (etwa 1,7 Millionen) am katholischen Religionsunterricht teil.
  • Im Schuljahr 2015/2016 lag die Teilnahmequote am evangelischen Unterricht noch bei 35,2 (+ 319.000 Schüler) und am katholischen Unterricht bei 33,6 Prozent (+ 251.000).
  • Die alle zwei Jahre erhobenen KMK-Zahlen zeigen einen stetigen Rückgang in beiden Fächern.

Weniger Religion, mehr Ethik

  • Deutlich gestiegen ist die Teilnahmequote an sogenanntem Ersatzunterricht: So besuchten im vergangenen Schuljahr fast 1,8 Millionen Schüler das Fach Ethik (26,4 Prozent), 2015/2016 waren es noch 983.000 Schüler (15,2 Prozent).
  • Eine Zunahme gab es auch beim Islamunterricht: Die Teilnahmequote stieg von 0,4 auf 0,7 Prozent.  2015/2016 nahmen demnach gut 24.000 Schüler daran teil, im vergangenen Schuljahr waren es knapp 50.000 Kinder und Jugendliche.

14 Thesen zur Lage des Glaubens und der Religion in Deutschland

1. These: Religion und Glaube bleiben zukunftsfähig

Glaube und Religion sind – allen Zweiflern, Leugnern und Verächtern der Religion zum Trotz – bis heute und auch in Zukunft nicht aus der Welt zu kriegen. Grundlegende ethische Werte wie Menschlichkeit, Nächstenliebe und Mitgefühl können die Basis einer Spiritualität sein, die Gläubige, Agnostiker und Atheisten gleichermaßen vereint. Um zu glauben, bedarf es keiner Religion, Andacht, keines Kultes. Wer ein Weltbild hat, für das es sich zu leben lohnt, ist bereits ein Glaubender.

2. These: Religiöse Konflikte nehmen an Schärfe zu

Der Islam ist die am schnellsten wachsende, die am stärksten missionierende und sozipolitisch unberechenbarste Religion.Europas und Deutschlands Christen verlieren weltweit an Einfluss. Die Spannungen zwischen den beiden größten religiösen Blöcken, Christentum und Islam, werden sich – regional sehr unterschiedlich – verschärfen. Ein neues Zeitalter religiöser Konfrontation zieht herauf. Die Epoche postaufklärerischer Konfessionslosigkeit hat ihren Höhepunkt beschritten. Das 21. Jahrhundert steht ganz im Zeichen einer Renaissance des Religiösen.

3. These: Der Glaube an Gott wird zum Stabilitätsanker

Friedrich Nietzsche Diktum, „Gott ist tot!“ ist überholt. Die atheistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind gescheitert. Der Gottesglaube erlebt angesichts globaler Krisen und Kriegen eine Wiedergeburt. Religion wird zum Stabilitätsanker und identitätsstiftenden Faktor in einer zunehmend anarchischen Welt. „Religionen sind die Antwort auf eine unverständliche und grausame Welt“, sagt der britische Physiker Stephen Hawking. Je unverständlicher und grausamer diese Welt wird, umso mehr wird ihr Einfluss wachsen.

4. These: Die Kirchen bleiben religiöser Marktführer

Die Entchristlichung der Gesellschaft ist nicht aufzuhalten. Der religiöse Einfluss der beiden großen Kirchen erodiert weiter. Das Modell der Volkskirchen ist überholt. Dennoch bleiben die evangelische und katholische die bestimmenden „religiösen Player“ auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen. Die Säkularisierung (Verweltlichung) ist ein Prozess, der nicht linear und kontinuierlich verläuft. Vielmehr laufen gleichzeitig und nebeneinander gegenläufige Entwicklungen ab.

5. These: Der Glaube wird individueller und gesellschaftlich irrelevanter

Die Mehrheit der Deutschen werden 2050 keine bekennenden Atheisten oder Religionsgegner sein, sondern lauwarm und halbherzig an irgendetwas glauben. Der Trend geht zur Individualisierung der Religion und zur Popularisierung von Glaube und Spiritualität. An den Kirchen geht dieser Trend weitgehend vorbei. Bei einer Mehrheit wandelt sich der konfessionell institutionelle Glaube zu einer Art Patchwork-Identität. Der Glaube nährt sich aus Versatzstücken, die jeder für sich zusammensetzt.

6. These: Die Krise des Glaubens ist eine Krise seiner Kerninstanzen

Die Kirchenbindung in Deutschland wird bis 2050 weiter nachlassen, das Glaubensleben erlahmen, das christliche Profil verblassen, die Austritte aus den Kirchen werden sich auf einem hohen Level einpendeln. Es wird kein „Gesundschrumpfen“ der Kirchen geben. Der Glaube wird verdunsten, das Glaubenswissen wird sich verflüchtig – bei vielen bis zur Bedeutungslosigkeit. Die beiden wichtigsten Sozialisierungsinstanzen des Glaubens, Familie und Pfarrei, werden zunehmend ausfallen.

7. These: Die Zukunft der Kirchen diakonisch-karitativ

Die beiden großen Kirchen werden von der Mehrheit der Bevölkerung (und nicht nur den Christen) in erster Linie als soziale Dienstleister wahrgenommen. Diakonie und Caritas werden als institutionalisiertes soziales Gewissen zu dem Grundpfeiler kirchlicher Arbeit und kirchlichem Profil. Caritas und Diakonie werden für einen funktionierenden Sozialstaat unverzichtbar bleiben.

8. These: Die neue Religiosität ist individuell, plural, unkonventionell

Der Bedeutungsrückgang der Kirchen als konstitutioneller Glaubensinstanz geht einher mit einem Aufschwung individueller Religiosität. Die neue Religiosität ist individueller, pluraler und unkonventioneller als die althergebrachte konfessionsgebundene Gläubigkeit. Sie gleicht einem spirituellen Flickenteppich. Immer neue, teils ziemlich schräge Trends werden auftauchen und wieder in der Versenkung verschwinden. Speziell der Engelglaube ist Teil einer sich weiter differenzierenden und aufsplitternden der spirituellen Erlebnisgesellschaft.

9. These: Sport und Konsumtrends sind pseudo-spirituelle Drogen der Zukunft

Die Abkehr vom traditionsgebundenen Glauben und den etablierten Kirchen geschieht oft unbewusst. Es ist ein langsamer und schleichender Prozess der Entfremdung, in dem die Religiosität eine immer geringere Rolle spielen wird. Der Reiz nach immer Neuem, nach dem Kick und Nervenkitzel ist für viele wie eine pseudo-spirituelle Droge. Freizeit, (Extrem)-sport und Konsumtrends werden zur neuen Religion einer säkularisierten und religiösen Erfahrungen gegenüber offenen Gesellschaft. Die zukünftige Sinn- und Seligkeitserfahrung im „Himmel“ wird auf die Erde verlagert. Das Jenseits wird im Diesseits – und nur hier – erfahrbar und erlebbar.

10. These: Glaube soll vor allem Spaß machen

Glaube soll vor allem den Einzelnen wie eine Glückspille glücklich und zufrieden machen. Er ist nicht auf Bewährung ausgelegt, sondern soll als ein spirituelles Antidepressivum gute Laune machen, Sorgen vertreiben und Stress abbauen helfen. Spiritualität bedeutet Innerlichkeit, Unmittelbarkeit und wohliges Empfinden. Der Glaube darf nicht anstrengend sein, weil er vornehmlich in der Freizeit stattfindet und Spaß machen soll. Als Anlaufstelle an biografischen Wendepunkten oder in Lebenskrisen sind die Kirchen weiter hin attraktiv.

11. These: Glaubende werden zu Wegbegleitern bei der Sinnsuche

Die Suche nach Wegen, die dem Leben Sinn geben können (wie Klosteraufhalte oder Wallfahrten), wird immer wichtiger und die Zahl der Suchenden immer größer. Der spirituelle Tourismus wurde ungemein boomen. Die religiöse Event-Kultur wird zum gemeinsamen Bindeglied und Orientierungspunkt von Glaubenden, Suchenden und Zweifelnden.

12. These: Der religiöse Fundamentalismus ist eine der größten Herausforderungen von Religion und Gesellschaft

Der religiöse Fundamentalismus jeglicher Couleur wird zu einer der größten Herausforderung für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Religion wird zum gesellschaftlichen Halt in einer als feindlich wahrgenommen Lebenswelt. Damit wächst exorbitant die Gefahr einer Radikalisierung. Der Fundamentalismus ideologisiert, instrumentalisiert und pervertiert die Religion. 

13. These: Die Erleuchtung kommt aus Asien

Die große Zeit des Buddhismus als Modereligion wird vorbei sein. Als Erleuchtungsreligion steht die Lehre Buddhas allen Sinnsuchenden offen. Das macht sie auch in Zukunft für Individualisten und Nonkonformisten besonders attraktiv. Die gesellschaftliche Erleuchtung kommt in Wellen: Dalai Lama-Kult, Yoga, Meditation – Asien bleibt en vogue.

14. These: Der Islam gehört zu Deutschland

2050 wird Deutschland (sehr viel) muslimischer sein als heute. Ihr Glaube wird Deutschlands Muslime politisch und gesellschaftlich mehr denn je mobilisieren und zu einer gesellschaftlichen Kraft werden lassen, an der niemand vorbei kommt (mit dpa-Agenturmaterial).

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Erstellt:
18. Oktober 2024, 13:17 Uhr
Aktualisiert:
18. Oktober 2024, 16:12 Uhr

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