Deutsche Bahn in der Kritik

Warum so viele Züge zu spät kommen

Nur drei von fünf ICE fahren halbwegs pünktlich. Die Deutsche Bahn AG macht vor allem die lange vernachlässigte Infrastruktur verantwortlich – doch Experten halten das für ein Märchen.

Die Bahn kommt – nur nicht immer pünktlich. Und manchmal auch gar nicht.

© dpa/Christian Charisius

Die Bahn kommt – nur nicht immer pünktlich. Und manchmal auch gar nicht.

Von Thomas Wüpper

Zu alt, zu kaputt, zu voll – so beschreibt Berthold Huber den Zustand des deutschen Schienennetzes. Immer häufiger gebe es plötzliche Schäden: „In diesem Jahr waren schon 20 Prozent mehr Sofortmaßnahmen nötig.“ Für den Infrastruktur-Vorstand der bundeseigenen Deutschen Bahn AG steht fest, dass die maroden und überlasteten Anlagen der Hauptgrund für die massiven Betriebsprobleme sind. So sieht das auch Bahn-Chef Richard Lutz: Mehr als 80 Prozent der Zugverspätungen würden durch Probleme bei der Infrastruktur verursacht.

Verkehrsexperten wie Felix Berschin von der Beratungsfirma Ramboll widersprechen solchen Darstellungen und verweisen auf die Netzzustandsberichte. Der Staatskonzern muss diese Bilanzen jährlich erstellen, seit der Bahnreform 1994 ist das Unternehmen für das bundeseigene Schienennetz verantwortlich und hat dafür seither mehrere hundert Milliarden Euro an Steuermitteln erhalten. Im aktuellen Bericht heißt es ausdrücklich, nur „ca. 10,1 Prozent“ der gesamten Verspätungsminuten seien von der DB Netz zu verantworten – 53,9 Prozent dagegen von den Bahnunternehmen.

Störungen wirken „wie Dominosteine“

Ein offensichtlicher Widerspruch. Wie erklärt das die zuständige DB? „Die Zahlen passen sehr wohl zusammen“, betont ein Sprecher der Fernverkehrssparte. Das zeige die „weitergehende Auswertung der Verspätungsursachen“. Demnach seien 2023 „gut 18 Prozent der Verspätungsereignisse direkt durch die Infrastruktur bedingt gewesen“, zum Beispiel Störungen an der Leit- und Sicherungstechnik oder an Weichen. Für weitere 61 Prozent sei die Überlastung des Schienennetzes verantwortlich.

Der Konzern definiert also mehr als drei Fünftel aller Verspätungen als „belastungsbedingt“. Die gestiegene Auslastung des Netzes und der Sanierungsstau mit vielen Baustellen und Engpässen führten dazu, dass sich Störungen „wie Dominosteine“ auf immer mehr Verkehre auswirken, erläutert der Sprecher. Alle diese entstehenden Folgeverspätungen ordnen die DB-Verantwortlichen ebenfalls der sanierungsbedürftigen Infrastruktur zu.

Experten wie Berschin vermuten, dass der Konzern so möglichst viel Geld für die längst überfällige Modernisierung von Gleisen und Bahnhöfen loseisen will. Allein für 2025 bis 2027 hat die bisherige Ampelkoalition der Bahn rund 53 Milliarden Euro zugesagt, eine Rekordsumme. Bis dahin sollen die ersten 1500 Kilometer der hoch belasteten Korridore rundumerneuert und viele Engpässe beseitigt werden, damit der Bahnverkehr endlich wieder pünktlicher wird. Die Generalsanierung des Bestandsnetzes werde sich „stabilisierend auf den Bahnbetrieb auswirken“.

Die DB-Strategen versprechen der Politik und den Fahrgästen wieder einmal Besserung: Binnen drei Jahren sollen die Verspätungen um ein Fünftel gesenkt und Fernverkehrszüge zu 75 bis 80 Prozent halbwegs nach Fahrplan fahren. Die Realität sieht anders aus: In diesem Jahr und auch im Oktober waren bisher im Schnitt gerade noch gut drei von fünf ICE mit weniger als sechs Minuten Verzug unterwegs, im Juni erreichte gar fast jeder zweite Fernzug sein Ziel erst mit größerer Verspätung. Bahnfahren wird für immer mehr Fahrgäste zum ständigen Ärgernis.

Experten wie Berschin sehen dafür neben der Infrastruktur wesentliche andere Ursachen – vor allem viele Unzulänglichkeiten beim hoch verschuldeten und verlustreichen DB-Konzern selbst, der längst zum schweren Sanierungsfall geworden ist. Ein Grund für die Betriebsprobleme seien Fehlplanungen und Versäumnisse bei der DB Fernverkehr AG, erläutert Berschin: zu lange und damit störanfällige Linien, zu viele Wechsel und fehlende Erfahrung beim Personal, zu wenige Reserven, unzuverlässige Technik, wenig kompetentes Störungsmanagement und die zersplitterte Verantwortung im Staatskonzern.

Die Kritik hält an

Der Konzern dagegen verweist auf die wachsende Betriebsleistung im deutschen Schienennetz. Seit der Bahnreform vor 30 Jahren habe der Verkehr um 28 Prozent zugenommen, die Gleislänge aber sei um 17 Prozent geschrumpft. Im überlasteten Netz wirkten sich „kleinste Störungen folgenreich auf die Pünktlichkeit aus“.

Berschin hält auch dieses Argument für wenig belastbar: Im Vergleich der Netzauslastung liege Deutschland in Europa nur auf Platz 6 – und alle Länder mit noch intensiverem Betrieb wie die Schweiz, Österreich und die Niederlande schafften dennoch einen teils viel pünktlicheren und zuverlässigeren Schienenverkehr.

Im Deutschen Bundestag, der über die vielen Milliardenzuschüsse an den klammen Staatskonzern entscheidet, scheint man den ziemlich flexiblen Angaben aus den DB-Etagen auch nicht zu trauen. Mitglieder des Haushaltsausschusses haben bei Verkehrsminister Volker Wissing (parteilos) nachgefragt, der auch nach dem Ende der Ampelkoalition im Amt bleibt. Im Antwortschreiben, so berichtete das „Handelsblatt“, werde eingeräumt, dass es für mehr als 90 Prozent der Verspätungsfälle mehr als eine Ursache gebe.

Das zeigte bereits eine Antwort des Ministeriums aus dem Jahr 2020 auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag (Drucksache 19/18864). Demnach liegen dem DB-Konzern die Daten zu Verspätungsursachen erst seit 2010 vor. Im genannten Zeitraum war der Anteil der „netzbedingten Ursachen“ nie höher als 26 Prozent (im Jahr 2011) – und sank bis 2019 auf nur noch 18 Prozent. Allein Fahrzeugstörungen waren in jenem Jahr für mehr als jede achte Verspätung verantwortlich.

Das Gerangel um die Ursachen von Verspätungen bei der Bahn wird den meisten genervten Fahrgästen ziemlich egal sein. Bahnkunden haben genug Ausreden und Versprechen gehört. Ihre Erwartung: Der DB-Konzern soll endlich sein Kerngeschäft in Ordnung bringen und Züge zuverlässig von A nach B fahren.

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Erstellt:
21. November 2024, 15:16 Uhr

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