Was Pelicot uns aufträgt
Wir müssen eine Debatte über die Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt führen.
Von Eva-Maria Manz
Stuttgart - Zehn Jahre lang hatte Dominique Pelicot seine Ehefrau Gisèle mit Medikamenten betäubt, hundertfach missbraucht und von Dutzenden Männern vergewaltigen lassen. Jetzt ist er zur Höchststrafe von 20 Jahren verurteilt worden. Auch die 51 anderen Täter wurden schuldig gesprochen. Damit ist in Frankreich die Botschaft aus dem Fall Pelicot klar: Sexuelle Gewalt wird hart bestraft und führt zur Ächtung.
Der Fall Pelicot ist eine monströse Tat. Doch sexuelle Gewalt ist alltäglich. Das zeigt auch das aktuelle Lagebild des Bundeskriminalamtes. Die Zahl der Sexualstraftaten ist von 2022 auf 2023 um 6,2 Prozent gestiegen, Gewalt gegen Frauen nimmt zu. K.-o.-Tropfen-Vergewaltigungen häufen sich. Zur Zeit läuft in Erfurt ein Verfahren gegen Michel R., der 17 Frauen bewusstlos gemacht und vergewaltigt haben soll.
Die Scham muss die Seiten wechseln – der Satz fiel schon Ende der 1970er Jahre in einem anderen französischen Vergewaltigungsprozess. Die Opfer, ein lesbisches Paar, wurden damals im Gerichtssaal beschimpft und bespuckt. Gisèle Pelicot, die diesen Satz ganz bewusst aufgegriffen hat, wird hingegen heute weltweit als feministische Ikone gefeiert.
Die Sitten verändern sich besonders seit „Me too“ rapide. Die Opfer sexueller Belästigung und Gewalt wollen nicht länger schweigen. Schämen sollen sich die Täter.
Kaum hinterher kommt da die Politik. Was sexuelles Einvernehmen bedeutet, muss politisch auch bei uns stärker diskutiert werden. Frankreich debattiert nun darüber, ob es künftig ähnlich wie in Spanien „Nur Ja heißt Ja“ und nicht mehr „Nein heißt Nein“ heißen müsste, also aktiv zugestimmt werden sollte. Darüber ließe sich streiten.
Sexuelle Gewalt muss in jedem Fall politisch stärker in den Fokus rücken, sie ist ein gesellschaftliches Problem, geht alle an und kann alle betreffen. Es kann nicht sein, dass Frauenhäuser in Deutschland massiv überlastet und unterfinanziert sind. Das Gewalthilfegesetz, das eine Verbesserung hätte bringen können, steht aktuell auf der Kippe.
Im gesellschaftlichen Diskurs dürfen Männer aber nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Vielmehr braucht es ihr Interesse daran, die Ursachen sexueller Gewalt aufzuklären. Was sind die strukturellen Gründe für geschlechtsspezifische Gewalt?
Die Statistiken zeigen, dass der Wunsch nach Unterdrückung der Frau kein migrantisches oder gestriges Problem ist. Dominique Pelicot sagte im Prozess, dass ihn die Fantasie getrieben habe, eine unbeugsame Frau zu beherrschen. Viele der Vergewaltiger gaben zu Protokoll, sie hätten gedacht, die sexuellen Handlungen an der Frau seien in Ordnung, da der Ehemann zugestimmt hatte.
Die westliche Kultur, das wird bei allen Fortschritten in Sachen Gleichberechtigung oft vergessen, ist zutiefst patriarchal geprägt. Wir alle sind es. Um zu sehen, wie stark das Bild der wehrlosen Frau und des überwältigenden Mannes in unsere Kultur eingeschrieben ist, muss man nur in die Kunst- und Literaturgeschichte blicken. Mit den Darstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, dieser Unterwerfungsikonografie, sollten sich alle auseinandersetzen, um die Ursprünge von Misogynie zu verstehen.
Männlichkeit bedeutet nicht Unterdrückung der Frau, das dürfte den meisten heute bewusst sein. Doch tief verborgen in uns allen sind Bilder, Sitten und Verhaltensweisen aus den vergangenen Jahrhunderten, die uns prägen. Bei manchen auch Gewalterfahrungen durch männliche Bezugspersonen in der Kindheit, wie im Fall Dominique Pelicot. Der Abgrund ist menschlich, in Bezug auf sexuelle Gewalt ist er männlich. Das gilt es strukturell aufzuarbeiten und endlich aufzulösen.