Weissacher marschiert fünf Monate durch den Wilden Westen
Laufen statt pauken – so hat Jannis Reutter aus Weissach im Tal diesen Sommer verbracht. Der Student ist mit zwei Freunden den sogenannten Pacific Crest Trail in den USA gelaufen. Etwa fünf Monate haben sie für den 4300 Kilometer langen Weg von Mexiko bis Kanada benötigt.

Im September sind Jannis Reutter (von links), Riccardo Melin und Timo Stidl am PCT-Monument angekommen, das Ziel an der kanadischen Grenze. Fotos: privat
Von Anja La Roche
USA/Weissach im Tal. Die orangefarbenen Turnschuhe an den Füßen von Jannis Reutter sind sein viertes Paar seit Mai. Schuld daran ist nicht etwa ein Faible für Sneaker, sondern die 4300 Kilometer, die er in den vergangenen fünf Monaten fußläufig bewältigt hat. Der 23-jährige Student ist mit zwei Freunden zusammen den Pacific Crest Trail (PCT) in den USA gelaufen. Dabei handelt es sich um eine Wanderung von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze. Nun steht er in der BKZ-Redaktion, ein schlanker hochgewachsener Mann, der mit ruhiger Stimme erzählt. Seit dem ersten Oktober ist er wieder in Deutschland. Die Freude über das leckere Essen bei seiner Familie in Weissach im Tal steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er versucht, die vielen Höhen und Tiefen, die er mit seinen Kommilitonen Riccardo Melin (24) und Timo Stidl (23) bei dem langen Marsch durchlebt hat, zusammenzufassen.
Angefangen hat alles in Landau, wo die drei Männer Umweltwissenschaften studieren. Als sie gemeinsam an einem Chemieprotokoll gearbeitet haben, sind sie – wie es eben so passiert – etwas abgeschweift und bei einem Dokumentationsfilm über den PCT auf Youtube gelandet. Wenige Monate später, Silvester 2020, reifte der Entschluss. Aus einer zunächst unreal wirkenden Idee entwickelte sich ein Plan. Dafür recherchierten sie ausführlich im Internet, denn für so ein Vorhaben braucht es eine gute Vorbereitung. Die Ausrüstung, die Zulassung fürs Campen im Nationalpark, das Visum – alles muss rechtzeitig bereitliegen. Denn nur zwischen März und Mai sollten die Langzeitwanderer die Strecke beginnen. Sonst könnten im Frühjahr beziehungsweise Herbst zu viel Schnee und Nässe oder zu große Kälte das Vorankommen erschweren.
Mit möglichst leichtem Gepäck sind die Studenten unterwegs
Im Mai 2022 ging es los. Die drei Studenten reisten per Flugzeug nach San Diego. Im Gepäck hatten sie nur das Nötigste. „Du willst so wenig wie möglich tragen“, sagt Reutter. Sie hatten etwa Zelt, Isomatte und Schlafsack, einen Topf, einen Brenner, eine Kartusche und Essen für zwei bis sieben Tage im Gepäck, zudem genügend Wasser bis zur nächsten Versorgungsstation. Bei den in der PCT-Szene berühmten Helfern „Scout“ und „Frodo“ konnten sich die drei Freunde vor der langen Tour noch einmal sammeln. Sie verbrachten dort zwei Nächte. Die als „Trail Angels“ bezeichneten Helfer haben ihnen noch ein paar letzte Tipps gegeben. „Das hat die Nervosität genommen.“
Am 6. Mai um 7.30 Uhr setzten Reutter, Melin und Stidl ihre ersten Schritte. 50 Personen dürfen an einem Tag starten. „Es war viel los“, erinnert sich der Weissacher. Angst hatte er keine, denn er fühlte sich gut vorbereitet. Neu und aufregend erlebte er die ersten Tage am südlichsten Punkt Kaliforniens. Das heiße Wetter, die Suche nach Schattenplätzen über die Mittagszeit, die fremden Tiere und Pflanzen. „Die Wüste ist optisch unglaublich eindrucksvoll“, schwärmt der Naturfreund. Schönstes Kino lieferten die eindrucksvollen Sonnenauf- und -untergänge. Die drei Wandersleute mussten die erste Klapperschlange mit Steinen und Stöcken vom Weg vertreiben, bestaunten bei ihrer gemächlichen Reise das 30 Kilometer lange topfebene Aquädukt und legten sich in Becken heißer Quellen.
Die Sierra Nevada war das Highlight für die Freunde
Nach 45 Tagen begann der zweite Abschnitt, die Sierra Nevada, „das Highlight vom Trail“. Zirka einen Monat lang ging es auf dem weit von der Zivilisation abgelegenen Weg über das Gebirge. Die Landschaft habe vor Wasser nur so gesprudelt, erzählt Reutter. Eine Extratour gönnten sich die Männer zum Gipfel des Mount Whitney (4421 Meter) und zum „Half Dome“ im Yosemite-Nationalpark. Sie sahen auch die ersten Schwarzbären – insgesamt würden ihnen noch mehr als zehn weitere begegnen. Es war aber nicht alles angenehm. „Man konnte im Tal nicht stehen bleiben, wegen der Moskitos“, weiß Reutter noch allzu gut. Außerdem hatte sich Stidl am Bein verletzt und musste eine Woche pausieren. Später konnte er seine Kameraden wieder einholen.

Abstecher auf den Mount Whitney.
Am 8. Juli haben die Männer zum ersten Mal den Qualm der für die Region typischen Waldbrände gesehen und gerochen. „Der begleitet einen dann bis zur kanadischen Grenze“, sagt Reutter.
Beim dritten Abschnitt wanderten sie durch eine waldige Hügellandschaft in Nordkalifornien. Ein großer Teil der Strecke war verbrannt. Sie durchquerten beispielsweise ein fast 200 Kilometer langes Gebiet verkohlter Bäume; die Hinterlassenschaften des großen Waldbrands namens „Dixie fire“, der dort 2021 gewütet hatte. Weitere 200 Kilometer mussten sie schließlich überspringen, weil es dort brannte. Sie suchten sich Mitfahrgelegenheiten, um bis zum Bundesstaat Oregon zu gelangen.
Dort ging die vierte, etwa 17-tägige Etappe los. Die Umgebung wurde etwas flacher, aber „immer wieder thronten die Vulkane, die mal 1500 Meter höher sind“ rechts und links des Pfades. Der Weg führte stellenweise über scharfkantige Lavafelsen. „Total abgefahren“, erinnert sich Reutter begeistert. Das tägliche Vorantrotten war allerdings zäh. „Man isst immer das Gleiche, und das nervt.“ Cookies zum Frühstück, dann Snacks und Haferflocken mit Erdnussbutter, mittags Nudeln und abends Fertigreis – ein weder gesundes noch schmackhaftes Menü. Dafür sei es die billigste und einfachste Variante, um auf die pro Tag notwendigen 5000 bis 6000 Kalorien zu kommen, erklärt Jannis Reutter. Um sich beim Wandern bei Laune zu halten, hat der Weissacher viele Podcasts und Hörbücher angehört. Die hatte er sich vorher auf seinem Handy gespeichert. „Sonst wärs auch echt langweilig gewesen“, gesteht er.
Anfang September erreichte das Dreiergespann den letzten Abschnitt, der durch den Bundesstaat Washington führt. Etwa ab der Hälfte erheben sich dort die Berge der Northern Cascades. Steile Felswände und Gletscher bieten schönstes Panorama. „Das ist fast das Coolste“, sagt Reutter, „zu sehen, wie sich die Landschaft von Süden nach Norden verändert.“ Zu Fuß erlebe man so eine Reise ganz anders. Dennoch ist sich Reutter sicher, er hätte die Reise abgebrochen, wäre er alleine unterwegs gewesen. „Man erlebt nicht nur die Highlights.“
Dann rückte schließlich das Ende des Trails näher. Das liegt an der sogenannten grünen Grenze zwischen Kanada und den USA. Auf den letzten Kilometern hatten die Männer richtig Glück mit dem Wetter. Der September bescherte ihnen nur einen einzigen Regentag. Je näher sie dem Ziel kamen, desto mehr wuchs der Wunsch in Jannis Reutter, dass die Wanderung doch noch ein Weilchen länger geht, trotz aller Unannehmlichkeiten. Am 24. September sind sie angekommen. Seit dem 6. Mai hatten sie nur acht Tage ohne wandern verbracht.

Unberührte Landschaften.
Rückblickend empfindet der 23-Jährige die ganze Reise als nicht besonders extravagant. „Es fühlt sich nicht so an, als ob wir etwas Besonderes gemacht haben, weil es eben nur Laufen beinhaltet“, sagt er. Aber er ist dankbar für die vielen kleinen Momente, die die lange Reise wertvoll machen. Vor allem das freiwillige Engagement der „Trail Angels“ hat er positiv in Erinnerung behalten. „Es ist schön zu erleben, wie freundlich alle sind.“ Jetzt geht das normale Leben weiter. Studieren, Freunde treffen und ab und zu mal ein Ausflug in die Natur. Seine Schuhe dürften diesen Alltag ein Weilchen länger überleben.
Trail Angels Der englische Begriff bedeutet so viel wie „Engel des Weges“ und bezeichnet die Menschen, die kostenlos Wasser, eine Unterkunft oder Fahrdienste für die PCT-Begeher bereitstellen. Sie unterstützen damit ehrenamtlich die etwa 3500 Menschen, die sich jedes Jahr auf den Weg machen. Auch Reutter, Stidl und Melin nutzten oftmals beispielsweise die Fahrdienste, um in einen Ort zu gelangen, in dem sie für die nächsten Tage einkaufen konnten.
Trail Names Die Wanderer und die Trail Angels geben sich oftmals einen anderen Namen, wenn sie auf dem PCT unterwegs sind. Reutter hat sich auf seiner Reise zum Beispiel „Patches“ genannt. So heißen auch „Scout“ und „Frodo“ in Wirklichkeit anders.