Wenn Bruder oder Schwester besonders sind

Drei Familien aus dem Raum Backnang schildern die Chancen und Belastungen für die Geschwister von Kindern mit Behinderung

Wenn ein behindertes Kind in einer Familie aufwächst, bedeutet das in vielen Fällen keine größeren Beeinträchtigungen für das Familienleben. Anders sieht es aus, wenn die Behinderung mit schweren Erkrankungen oder problematischem Verhalten einhergeht. Geschwisterkinder können dadurch stark belastet, aber auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt werden.

Verstehen sich prächtig (von links): Julia, Tom und Leo. Dass Tom mit dem Downsyndrom lebt, stellt für das Familienleben keine größere Beeinträchtigung dar. Foto: T. Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Verstehen sich prächtig (von links): Julia, Tom und Leo. Dass Tom mit dem Downsyndrom lebt, stellt für das Familienleben keine größere Beeinträchtigung dar. Foto: T. Sellmaier

Von Annette Hohnerlein

ALLMERSBACH IM TAL/WEISSACH IM TAL/ BACKNANG. Der sechsjährige Leo, sein elfjähriger Bruder Tom, der das Downsyndrom hat, und seine Schwester Julia, 13 Jahre, sitzen auf dem Sofa und schauen gemeinsam ein Buch an. Ihre Mutter Bettina H. erzählt unterdessen, wie das Leben in ihrer Familie, die in Allmersbach zu Hause ist, so abläuft. „Tom ist ein fröhlicher und herzlicher Mensch. Er hat das Gute-Laune-Chromosom“, sagt sie und spielt damit auf das zusätzliche Chromosom an, das Menschen mit Downsyndrom besitzen. Julia bestätigt: „Ohne Tom wäre unsere Familie nur halb so lustig.“ Ihr Familienleben empfinden die H.s als normal, obwohl sie bestimmte Dinge beachten müssen, die mit Toms Behinderung zusammenhängen. Zum Beispiel seine Weglauftendenz. Vor drei Jahren unternahm er in einem unbeobachteten Moment einen eigenmächtigen Ausflug und wurde dabei von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Seitdem sind seine Eltern immer in Alarmbereitschaft. Einfach mal als Familie über einen Weihnachtsmarkt zu bummeln, ist wegen Toms Selbstständigkeitsdrang nicht ganz einfach. Andere Aktivitäten dagegen funktionieren bestens: „Mit Tommy kann man prima raufen und Quatsch machen“, sagt Julia. Was die Reaktion von Außenstehenden auf ihren Bruder betrifft, hat sie fast nur gute Erfahrungen gemacht. „Meine Freundinnen sind herzlich zu Tom. Nur fremde Kinder gucken manchmal komisch.“ Einmal habe ein Mädchen bei einem Handballspiel eine abfällige Bemerkung über ihren Bruder gemacht. Dass es wegen Tom gewisse Einschränkungen gibt, sieht Bettina H. nicht als Problem für dessen Geschwister: „Sie lernen, dass es normal ist, mal zurückzustecken. Und dass es normal ist, wenn jemand was nicht gleich kann.“

In der Familie W. war Mareike drei Jahre alt, als ihr Bruder Sebastian geboren wurde. Sie war begeistert von dem süßen Knirps, spielte mit ihm und fuhr ihn mit dem Puppenwagen spazieren. Dass er das Downsyndrom hat, spielte für sie keine Rolle. „Mareike ist da einfach reingewachsen, es war normal“, erzählt Simone W., die Mutter der beiden. Wenn sie mit Sebastian zur Krankengymnastik, zur Frühförderung oder zum Arzt ging, war ihre Tochter von Anfang an dabei.

Als Mareike den Kindergarten besuchte, legte ihre Mutter die Termine auf den Vormittag und hatte nachmittags Zeit für ihre Tochter. Auf diese Weise fühlte sich die große Schwester nicht benachteiligt. Später ging auch Sebastian in den Regelkindergarten in Unterweissach, dem Wohnort der Familie, und wurde von den Freundinnen seiner Schwester ohne Probleme akzeptiert und mit einbezogen. „Das Wort Behinderung fiel nicht, wir haben keine negativen Erfahrungen gemacht“, erzählt Simone W., „Sie haben Mama-Papa-Kind gespielt, und Sebastian war das Kind. Dass er nicht reden konnte, das war halt so.“ Nur wenn der kleine Bruder Quatsch machte, empfand Mareike das als peinlich. Heute ist sie 17 Jahre alt und übernimmt auch mal die Betreuung ihres Bruders oder besucht mit ihm zusammen die Oma. „Sebastian ist stolz auf seine Schwester. Bei ihr spurt er“, sagt Simone.

Aber nicht jede Familie, in der ein Kind mit Behinderung aufwächst, hat das Glück, ein weitgehend normales Leben führen zu können. Bei Familie S. aus Backnang war es anders. Bei ihrem Sohn Benedikt wurde mit drei Jahren ein schwerer frühkindlicher Autismus diagnostiziert, der sich in großer Unruhe, einer starken Weglauftendenz und körperlich übergriffigem Verhalten den Angehörigen, Betreuern und auch Fremden gegenüber äußerte.

Es heißt zurückstecken, wenn die Kraft der Eltern zum Großteil für den behinderten Bruder gebraucht wird

Für die beiden Brüder war es schwer zu verstehen, dass es nichts mit böser Absicht zu tun hatte, wenn Benedikt sie attackierte oder wenn er sich unterwegs auf den Boden warf und nicht mehr weitergehen wollte. Sie mussten ihre Bedürfnisse zurückstellen, weil die Kraft der Eltern zu großen Teilen für ihren Bruder gebraucht wurde; eine Situation, die die Eltern fast zerriss. Mit den Jahren wurden Benedikts Kräfte größer, es wurde immer schwerer, ihn zu bändigen. Familienaktivitäten außer Haus waren kaum noch möglich, die Familie geriet immer mehr in Isolation. Schließlich entschlossen sich die Eltern schweren Herzens, ihren Sohn mit 15 Jahren in eine Wohngruppe einer Behinderteneinrichtung zu geben. „Es ist ein sehr schwerer Schritt, ein Kind wegzugeben“, beschreibt die Mutter Susanne S. die Entscheidung, der ein jahrelanger Überlegungsprozess vorausging. Trotz aller Belastungen sieht sie aber auch positive Aspekte für ihre beiden anderen Söhne. „Sie haben ein großes soziales Bewusstsein entwickelt und haben gelernt, dass man zusammenhält. Und sie regen sich nicht so schnell auf.“

Info
Geschwister von Behinderten entwickeln besondere Stärken

Simone Meyer ist Fachkraft für Geschwister bei der Diakonie Stetten und organisiert zusammen mit ihrer Kollegin Beate Eißele seit 1999 Angebote speziell für Kinder und Jugendliche, die ein Geschwisterkind mit Behinderung haben: Spiel und Spaß auf dem Airtramp, sogenannte SuSi-Kurse (Supporting Siblings) oder Geschwisterfreizeiten im Schwarzwald (https://wohnen- assistenz-beratung.diakonie-stetten.de/ unterstuetzung-und-freizeit/offene-hilfen-rems-murr-kreis/geschwistertreff).

Dort lernen die Teilnehmer Kinder und Jugendliche kennen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie selbst. Denen sie nicht viel erklären müssen, sondern die sie verstehen und die mit den gleichen Fragen konfrontiert sind: Wie sag ich’s neuen Freunden und Klassenkameraden? Was mache ich, wenn mich mein Bruder bei den Hausaufgaben stört? Wenn er mich haut, darf ich zurückhauen, obwohl er schwächer ist? „Es geht darum, die Geschwister zu stärken“, sagt Meyer, „die Kinder sollen merken, was sie stresst, und lernen, wie sie mit Stress besser umgehen können.“

Solche Belastungen können durch auffälliges Verhalten oder auch durch Krankheiten des behinderten Kindes entstehen. „Bei schweren Erkrankungen des Geschwisterkindes erleben sie existenzielle Sorgen. Und sie müssen zurückstehen, wenn die Eltern viel Zeit für das behinderte Kind brauchen, zum Beispiel für Therapien“, erläutert Simone Meyer. Sie berichtet aber auch von Chancen für die Geschwister von behinderten Kindern: „Viele haben Stärken entwickelt, die andere Kindern im gleichen Alter nicht haben. Sie sind empathisch, verantwortungsbewusst, reflektiert, machen sich Gedanken über ihr Leben und das Leben anderer.“

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Erstellt:
3. Januar 2019, 06:00 Uhr

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