„Wir machen viel und vieles sehr gut“
Interview Landrat Richard Sigel spricht über die Krisenbewältigung im Rems-Murr-Kreis, über das Miteinander in der kommunalen Familie des Landkreises und den Kommunen und darüber, wie er als Schwabe mit Lob zurechtkommt.

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„Mir persönlich ist Bürokratie zuwider“, bekennt Landrat Richard Sigel. Foto: B. Beytekin
Die Kreistagsfraktionen haben Sie zuletzt als Krisenmanager hoch gelobt. Wie nehmen Sie so etwas auf?
Natürlich freut es mich und gibt mir Kraft, wenn das Krisenmanagement gut ankommt. Noch wichtiger ist aber, dass die Strukturen funktionieren. Das scheint der Fall zu sein: Beispielsweise das Buchungsportal für Coronaschnelltests nutzen ein Viertel der Kreisbürgerinnen und Kreisbürger, also an die 100000 Menschen regelmäßig. Zudem haben sich über 2000 Unternehmen und zwei Drittel der Schulen im Landkreis als Nutzer der RMK-Cosima-App registriert. Selten erreichen wir als Landkreisverwaltung so viele Bürgerinnen und Bürger.
Spüren Sie nicht dennoch auch manchmal eine gewisse Pandemiemüdigkeit?
Pandemiemüdigkeit bleibt auch bei mir nicht aus: Ich bin als Ausdauersportler zwar Langstrecken gewohnt, aber die letzten Jahre kosten Kraft und gehen manchmal auch an die Substanz. Zudem ist die Coronapandemie schon die zweite Krise, die ich mitmache. Die Flüchtlingskrise hat mich damals von meinem ersten Tag als Landrat im August 2015 beschäftigt. Damals wie heute war mir wichtig, gute Strukturen zu schaffen.
Finanziell sieht es für den Rems-Murr-Kreis gar nicht so schlecht aus. Sie sprachen bei der Haushaltseinbringung von „Land in Sicht“.
Dieses Zitat aus meiner Haushaltsrede im Oktober galt eigentlich der Coronasituation. Um aber bei der Seefahrt zu bleiben: Ich meine, wir haben beim Haushalt derzeit „festen Boden unter den Füßen“. Als Schwabe war Haushaltskonsolidierung für mich immer wichtig und ist eines meiner Ziele als Landrat.
Heißt das einfach nur, die Groschen beisammenzuhalten?
Konsolidierung bedeutet für mich nicht einfach nur sparen. Gute Konsolidierung investiert in Strukturen und schafft Werte. Mir ist es wichtig, in die Zukunft zu investieren. Und das geht als Landkreis immer nur im partnerschaftlichen Austausch mit den Städten und Gemeinden, denn der Landkreis hat de facto keine Steuereinnahmen.
Die kreisangehörigen Kommunen zahlen also einen Großteil der Zeche, was den Bürgermeistern im Kreistag nicht so schmeckt, richtig?
Wir finanzieren uns auch über die Kreisumlage der Städte und Gemeinden und haben daher zwangsläufig unterschiedliche Interessen. Meine Maxime war aber stets, dass Haushaltsberatungen kein Basar sind, sondern sich an den Sachthemen orientieren. Dafür stehe ich.
Aus Backnang kam dafür ja schon Lob. Der neue Backnanger Oberbürgermeister Maximilian Friedrich hat das in seiner Haushaltsrede lobend erwähnt, ja. Das freut mich und ist ein Zeichen dafür, dass der Landkreis und die Stadt Backnang die partnerschaftliche Zusammenarbeit unter seiner Ägide fortsetzen.
Wie ließe sich dieses kommunale Konfliktpotenzial entschärfen?
Der Streit ums liebe Geld zwischen Landkreis und Kommunen wäre gänzlich unnötig, wenn Bund und Land für eine auskömmliche Finanzierung sorgten. Deshalb ist es der gemeinsame Appell der kommunalen Spitzenverbände an die neuen Regierungen in Stuttgart und Berlin: Wir brauchen eine langfristig tragfähige Finanzierung, keine „Projekteritis“. Das gilt vor allem für die Sozialleistungen, die nach wie vor den größten Posten in unserem Haushalt ausmachen.
Fehlt es Ihnen an Wertschätzung von Landes- und Bundesseite?
Ich würde mir wünschen, dass Bund und Land aus der Krise gelernt haben: Die kommunale Basis ist das Fundament. Dort werden solche Krisen gemeistert und praktische Lösungen entwickelt.
Nun steigt auch die Zahl jener Menschen wieder, die vor Krieg und Vertreibung nach Deutschland fliehen.
Wenn ich an die Flüchtlingskrise 2015 zurückdenke, dann habe ich ein Déjà-vu: steigende Flüchtlingszahlen und zu wenig Unterkünfte. Im Oktober und November hat sich die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, vervierfacht, und wir bekommen als Landkreis die Menschen sehr schnell vom Land Baden-Württemberg aus der Erstaufnahme zugewiesen. Die Landeserstaufnahme scheint auf eine steigende Anzahl von Geflüchteten nicht gut vorbereitet.
Ärgert Sie das nicht?
Das ist nicht nachvollziehbar, nachdem die Landkreise im Land in den letzten Jahren Kapazitäten abbauen mussten – zum Teil mit hohen Kosten. Wir müssen als Landkreis trotzdem auf eine steigende Anzahl von Geflüchteten vorbereitet sein, weil es das Land nicht ist.
Und ist der Rems-Murr-Kreis tatsächlich darauf vorbereitet?
Da wir davon ausgehen müssen, dass die Zahlen weiter steigen, schaffen wir gerade in enger Abstimmung mit den Städten und Gemeinden neue Plätze – mit kurzfristigen Lösungen und mit unserem Zukunftskonzept, an dem wir bereits seit zwei Jahren arbeiten. Deshalb können wir dank eines guten Miteinanders in der kommunalen Familie unsere humanitäre Verantwortung bisher erfüllen. Ab Januar 2022 steht bereits eine neue Unterkunft – hauptsächlich für Familien – in Allmersbach im Tal zur Verfügung.
Es war ja schon häufiger Kritik an der Zusammenarbeit des Landes mit den Kreisen und Kommunen zu hören. Ist das besser geworden?
Die große Politik verspricht oft sehr früh sehr viel, ohne die Dinge abgestimmt zu haben oder zu fragen: Funktioniert das überhaupt, sind wir vorbereitet? Das kostet nach meiner Wahrnehmung Vertrauen und Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Das könnte besser werden.

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An der gewerblichen Schule in Backnang soll eine Lernwerkstatt Zukunftstechnologie für Wasserstoffnutzung entstehen. Drei Millionen Euro Förderung dafür hat das Land Baden-Württemberg schon in Aussicht gestellt, so Kreischef Sigel. Archivfoto: A. Becher
Ich versuche das anders zu machen, einen anderen Stil zu pflegen, vielleicht weil ich nicht aus der Politik und auch nicht klassisch aus dem „Beamtenapparat“ komme. Mir persönlich ist Bürokratie zuwider. Selbstverständlich sind wir als Landratsamt ein Teil der Landesverwaltung und tragen loyal unseren Teil zum Gelingen bei. Beispielsweise bei der Impfkampagne klappt die Zusammenarbeit mit dem Land sehr gut.
Ist der Rems-Murr-Kreis dem Land also quasi schon ein Stück weit voraus?
Ich habe beim diesjährigen Haushalt den Bundespräsidenten zitiert, dass wir „moderner, digitaler, insgesamt intelligenter“ werden müssen. Als Landkreis haben wir längst vieles auf den Weg gebracht und wir denken auch so. In dieser Hinsicht muss nach meiner Wahrnehmung in der Landesverwaltung noch ein Umdenken stattfinden. Es muss eben auch das „Mindset“ stimmen.
Das Umdenken auf Landesebene braucht aber offenbar länger.
Zugegeben, vielleicht sind wir als Landkreis eher ein wendiges Schnellboot und die Landesverwaltung eher ein großer Tanker. Oder vielleicht arbeitet meine Mannschaft auch einfach nur etwas schneller und motivierter (lacht).
Corona überschattet weiterhin alles. Es gibt aber noch viele andere Felder, die zu beackern sind. Wie ist der Kreis etwa beim Klimaschutz aufgestellt?
Es ist immer schwierig, selbst zu sagen, wo man steht. Und sich als Schwabe gar selbst zu loben, ist noch schwieriger. Aber uns wird von außen attestiert, dass wir viel machen und vieles sehr gut machen. Wir haben allein in den letzten Jahren zwei Bundespreise für unsere Klimaschutzaktivitäten gewonnen und wurden vom Bundesumweltministerium ausgezeichnet.
Wie hoch hängen Sie persönlich solche Auszeichnungen?
Das freut mich und ich bin stolz, dass einer der Preise an junge Menschen für ihr Engagement ging. Unser Programm steht für „Klimaschutz zum Mitmachen“, denn wir sind der Überzeugung: Der Landkreis steht so gut da wie seine Bürger, Unternehmen und Vereine mitmachen.
Wie sehen hier die konkreten Ziele aus?
Wir müssen selbst auch unserer Vorbildrolle gerecht werden. Ein klares Ziel, wie wir bis 2030 als Landkreis klimaneutral arbeiten können, gibt es bei uns schon seit zwei Jahren. Dieses Ziel spiegelt sich in vielen Projekten des Landkreises wider: Zum Beispiel wie wir unsere Abfallwirtschaft nachhaltiger machen und wie wir die Zukunftstechnologie Wasserstoff nutzen können.
Also viele Einzelprojekte, bei denen man das große Ganze im Blick hat?
All diese Bausteine greifen ineinander und sind Teil einer Gesamtstrategie. Das gilt übrigens auch für die Neubauten unseres Landratsamts, die entscheidend zu unserer Klimaneutralität beitragen werden. Auch hier gab es gerade jetzt vor Weihnachten noch Anerkennung von außen und ein kleines Geschenk: Für die innovative Holzbauweise, die am Alten Postplatz geplant ist, werden wir 300000 Euro Förderung vom Land erhalten.
Die Wasserstofftechnologie soll im Kreis eine besondere Rolle spielen. Was tut sich in dem Bereich?
Ich bin überzeugt, dass wir neue Speichertechnologien brauchen. Deshalb habe ich 2020 für eine Wasserstoffstrategie auf Kreisebene geworben, zeitgleich als die Konzepte auf EU- und Bundesebene vorgestellt wurden. Ich sehe uns auf einem guten Weg, auch wenn es dauert.
Wie konkret ist dieser Weg bereits?
Für eine Lernwerkstatt Zukunftstechnologie an der gewerblichen Schule in Backnang sind die Pläne fertig und das Land Baden-Württemberg hat jüngst fast drei Millionen Euro Fördermittel für unsere Pläne in Aussicht gestellt. Sobald der Landeshaushalt beschlossen ist, wird es konkret. Die Förderung einer Wasserstofftankstelle in Waiblingen steht und auch hier wird es wohl im kommenden Jahr konkreter. Und wir prüfen derzeit auch mit Fördermitteln des Bundes, ob wir ganze Wohnviertel über Fotovoltaik und Wasserstoff mit Nahwärme versorgen können, ähnlich wie es schon in der neuen Esslinger Weststadt funktioniert.
Windenergieanlagen findet man so gut wie keine im Kreisgebiet. Wie stehen mittelfristig die Chancen, dass sich das ändert?
Die Landesregierung will deutlich mehr Windräder und dafür die Dauer der Verfahren halbieren. Mit der Verschlankung von Verwaltungsprozessen rennt man bei mir offene Türen ein: Wir arbeiten ohnehin als Musterlandkreis bei einem Projekt des Normenkontrollrats Baden-Württemberg mit, um Verfahren zu beschleunigen.
Wird das die Sache beschleunigen?
Es wird sicher ein langer und schwieriger Weg, denn es gilt, viele Interessen bei Genehmigungsverfahren für Windkraft in Einklang zu bringen. Großes und schnelles Potenzial sehe ich daher eher bei der Fotovoltaik.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie und wann gönnt sich der „Krisenkapitän“ Richard Sigel in coronabedingt immer noch stürmischen Zeiten eine Auszeit?
Zeit mit meiner Familie und Sport zu verbringen, ist für mich gerade in stressigen Zeiten wichtig, um aufzutanken. Das gönne ich mir und das gibt mir die nötige Perspektive und Kraft für die nächste Herausforderung. Und mir hilft beim Abschalten und Auftanken auch, dass ich das Amt des Landrats und die Person Richard Sigel immer noch gut trennen kann.
Das Gespräch führte Bernhard Romanowski.