„Wir sind keine Halbgötter in Weiß“
Gesund bleiben in stressigen Berufen (3): Sich sicher zu fühlen, in dem, was er tut, nimmt Notarzt Hartwig Enzel den Stress
Hartwig Enzel ist Notarzt. Wenn er zu einem Einsatz gerufen wird, trägt er die alleinige Verantwortung, seine Entscheidungen bedeuten für den Patienten oft den schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Stressig findet Enzel seine Arbeit trotzdem nicht, er bezeichnet sie eher als anstrengend.

Mit dem Rad zur Arbeit und zurück: Für Hartwig Enzel ein guter Weg, um den Kopf freizubekommen. Foto: privat
Von Silke Latzel
WINNENDEN. Wenn Hartwig Enzel zu einem Einsatz gerufen wird, sind die Minuten, die er als Beifahrer im sogenannten Notfalleinsatzfahrzeug (NEF) sitzt, die wichtigsten für ihn. In dieser Zeit sammelt er Kraft, versucht sich psychisch auf das einzulassen, was er am Unfallort sehen wird und versucht sich schon einmal vorzustellen, was ihn erwarten könnte. Denn die Rettungsleitstelle versucht zwar ihm so viele Informationen wie nötig mit auf den Weg zu geben, doch manchmal ist das gar nicht so einfach.
Hartwig Enzel ist angestellter Anästhesist am Rems-Murr-Klinikum Winnenden und zudem in der präklinischen Notfallmedizin tätig – das bedeutet: Er arbeitet hauptsächlich im Krankenhaus, fährt aber auch Schichten als Notarzt. „Der Unterschied zwischen der Arbeit im Krankenhaus und als Notarzt sind klar: Im Einsatz draußen, weiß ich nie was passiert. Ich warte ab, bis der Alarm losgeht und muss dann sofort schalten. Der Dienst im Krankenhaus ist geplant und vorhersehbar, es gibt OP-Pläne, nach denen ich mich richten kann. Und Notfälle gibt es kaum.“ Das Wort Stress mag Enzel nicht, er spricht lieber von Anstrengung. Wie er damit umgeht und welchen Ausgleich er sich sucht, erzählt er der BKZ im Gespräch.
Arbeitszeiten: Eine Schicht als Notarzt dauert zwölf Stunden, Enzel hat von 8 bis 24 Uhr Bereitschaft, fährt seit über zehn Jahren Einsätze. „Manche Kollegen haben auch eine 24-Stunden-Schicht, das mache ich aber nicht“, sagt er. Manchmal passiere in seiner Schicht gar nichts, an anderen Tagen „bin ich noch nicht einmal richtig umgezogen, dann kommt schon der erste Einsatz“. Dies sei es allerdings, was den Beruf so spannend macht. Der 41-jährige Arzt mag es gerne, wenn er viel zu tun hat. „Natürlich wünsche ich mir nicht, dass jemandem etwas passiert, ganz sicher nicht. Aber es ist einfach zermürbend, dazusitzen und zu warten, dass etwas passiert und man zu einem Notfall gerufen wird. Denn man lebt ja quasi auf Abruf und weiß, dass jede Sekunde etwas passieren könnte. Und deshalb traut man sich fast nicht, etwas anderes zu machen als zu warten.“
Schlaf: Die Anspannung zwischen den Einsätzen, die ein Notarzt nie wirklich loswird, wirkt sich auch auf sein Schlafverhalten aus, richtiger Tiefschlaf ist kaum möglich. „Man muss das über die Jahre einfach lernen, es ist eine Gewohnheitssache. Ab und an sollte man versuchen, abzuschalten und auch die Augen zumachen. Aber es ist natürlich kein Vergleich zu einem wirklichen erholsamen Schaf daheim. Denn während meiner Schicht muss ich innerhalb weniger Sekunden von 0 auf 100 Prozent da sein.“
Familie: Hartwig Enzel ist Vater. Das hat seine Sicht auf den Beruf verändert. „Natürlich ist es schon so, dass besonders Einsätze, in denen es um Kinder geht, mich jetzt noch mehr berühren als vorher schon. Das ist grundsätzlich eine schwierige Situation, aber als Vater denkt man dann oft: ,Das hätte auch mein Kind sein können.‘“ Bevor er seine Arbeit am Klinikum Winnenden aufgenommen hat, hat Enzel in Stuttgart gearbeitet, seine Familie lebte aber schon im Rems-Murr-Kreis. „Das war dann schon leichter, denn ich wusste ja, dass ich nie zu einem Unfall gerufen werden kann, an dem meine Familie beteiligt ist.“ Dies sei jetzt nicht mehr der Fall und „wenn ein Notruf kommt, in dem es um ein Kind geht, checke ich in Gedanken immer ab, ob meine Kinder betroffen sein könnten, weil ich weiß, dass sie an diesem Tag dort und dort sind und mein Einsatz in diese Richtung geht“. Vor- und Nachteil gleichermaßen ist für Enzel, dass seine Frau ebenfalls Medizinerin ist. „Sie versteht die sachlichen Dinge, die mich beschäftigen, besser als andere und kann darauf ebenso fundiert reagieren. Allerdings sprechen wir beide dann mehr darüber, als ich es eventuell mit einer Partnerin machen würde. Ob das jetzt positiv oder negativ ist, sei mal dahingestellt.“
Nach der Arbeit helfen ihm seine beiden Kinder, abzuschalten. „Sie bringen mich auf andere Gedanken, weil sie keine Rücksicht auf meinen Beruf nehmen und auch nicht auf das, was ich erlebt habe. Das tut mir gut, ich kann mich dann wirklich entspannen.“ Die Familie versucht, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen.
Psychologische Betreuung: „Die wirklich schlimmen, stressigen und damit auch herausfordernden Einsätze sind eher eine Ausnahme“, so der 41-Jährige. Wenn ihn doch einmal ein Fall nicht loslässt, redet er ganz offen mit seinen Kollegen. Und auch vor Ort, nach Beendigung eines schweren Einsatzes, möchte Enzel gerne mit den Rettungsassistenten und -sanitätern den Einsatz Revue passieren lassen. „Wir sprechen dann ganz locker, gehen noch einmal unsere Entscheidungen durch und reden darüber, was wir hätten anders machen können. Das hilft ungemein. Und bei schlimmen Unfällen oder Unglücken ist auch ein speziell geschultes Team vor Ort, das sich psychologisch um die Angehörigen der Opfer, aber auch um die Rettungskräfte kümmert.“
Stress komme vor allem dann auf, wenn es keine Zeit gibt, das Erlebte zu verarbeiten: „Es passiert nicht oft, aber manchmal muss man von einem Einsatz zum nächsten, da ist der Patient noch nicht einmal im Krankenhaus angekommen und wir werden schon wieder gerufen.“ Da der Notarzt in einem eigenen Fahrzeug mit Fahrer unterwegs ist, muss er dann eine Entscheidung treffen: Den Rettungstransportwagen (RTW) bis ins Krankenhaus begleiten, um für alle Fälle beim verletzten Patienten sein zu können oder weiterfahren zum nächsten Fall – nicht immer eine einfache Entscheidung.
Auf der Wache zurück gilt es dann, den Kopf freizumachen für den nächsten Einsatz. „Ich versuche dann meistens etwas zu lesen oder schaue auch mal fern. Es geht einfach nicht anders, man muss Platz und Raum finden für etwas Neues, damit man beim nächsten Einsatz wieder voll da ist.“ Das lerne man vor allem mit der Zeit. „Wer eine gewisse Routine bekommt, kann besser mit dem umgehen, was in Einsätzen passiert ist.“
Der psychologische Vorteil der präklinischen Notfallmedizin liegt für Enzel auf der Hand: „Wenn der Patient in der Klinik angekommen ist und lebt, dann ist die Sache für mich vorbei. Dann weiß ich, dass ich mein Möglichstes getan habe und das gibt mir dann schon ein Erfolgsgefühl. Und das kommt dann viel geballter als auf der Station, wenn ich mich über mehrere Tage um einen Patienten kümmere.“ Und noch ein Vorteil der Notfallmedizin: Die Arbeit ist endlich. „Wenn meine Schicht beendet ist, dann gehe ich nach Hause und dann ist der Arbeitstag für mich auch vorbei, weil ich einfach an meinen Kollegen übergeben kann. Ich nehme keine Aufgaben mit, die ich am nächsten Tag erledigen muss.“
Sport: „Solange es vom Wetter her geht fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit.“ Für Enzel sind die jeweils 20 Minuten zur Arbeit und wieder nach Hause ein guter Ausgleich. „Ich fahre durch den Wald oder die Weinberge, bekomme durch die frische Luft den Kopf frei. Das ist einfach viel besser, als im Feierabendverkehr im Stau zu stehen.“
Verantwortung: „Als Notarzt muss ich schnell und alleine Entscheidungen treffen. Das muss innerhalb von Sekunden gehen, ich habe oft nur geringe Möglichkeiten an Diagnostik. Da kann es natürlich auch sein, dass ich falsch liege. Für diesen Druck sind nicht alle Ärzte gemacht.“ Besonders gravierend sei es, wenn man der Wahrheit ins Auge sehen und akzeptieren muss, dass es ein Patient nicht mehr geschafft hat und tot ist. „Das fällt oft schwer, vor allem jungen Kollegen. Irgendwann muss man aber einfach aufhören, weil man nichts mehr für den Patienten tun kann. Ich bespreche das in der Regel immer mit meinem Team und wir treffen dann gemeinsam die Entscheidung, ob wir etwa bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand die Reanimation beenden. Das gemeinsam zu entscheiden, ist unglaublich wichtig, denn keiner soll mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass man nicht alles für den Patienten getan hat.“ Natürlich haben auch Ärzte hin und wieder Selbstzweifel, das gibt Enzel offen zu. „Wir sind, anders als es oft gesagt wird, keine Halbgötter in Weiß. In vielen Fällen können wir nichts machen.“ Sein Patentrezept: „Je besser man sich ausbildet, je mehr man weiß, desto sicherer und ruhiger wird man im Einsatz. Und desto besser lässt sich auch Stress vermeiden.“