Wollte eine Mutter ihre Kinder mit in den Tod nehmen?
Der Prozess gegen eine 37-jährige Autofahrerin, die frontal auf die Alte Kelter in Weinstadt gefahren ist, ist vor dem Landgericht angelaufen.

© Alexander Becher
Prozessauftakt am Landgericht in Stuttgart. Archivfoto: Alexander Becher
Von Heike Rommel
Weinstadt. Weil eine Autofahrerin am frühen Morgen des 7. Dezember 2022 mit vier Kindern im Auto wohl absichtlich frontal auf die Alte Kelter Weinstadt-Endersbach gefahren ist, muss sie sich unter anderem wegen versuchten Mordes vor der Schwurgerichtskammer des Stuttgarter Landgerichts verantworten. Die Kammer hat zu prüfen, ob die 37-Jährige Suizid begehen und ihre Kinder im Auto mit in den Tod nehmen wollte. Auch der von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft beauftragte Gerichtspsychiater Peter Winckler nimmt am Prozess teil.
Die Angeschuldigte kam gleich nach dem tragischen Verkehrsunfall ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg und danach ins Frauengefängnis Schwäbisch Gmünd, wo sie immer noch in Untersuchungshaft sitzt. Ihre heute ein-, zwei-, vier- und fünfjährigen Kinder hat sie seitdem nicht mehr gesehen. Staatsanwältin McIver legte der ledigen Angeschuldigten versuchten Mord an zwei nicht angegurteten Kindern, versuchten Totschlag an zwei im Auto gesicherten Kindern, gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und gefährliche Körperverletzung zur Last. Eines der Kinder hat sich bei dem Unfall den Unterschenkel gebrochen. Die anderen drei und die Mutter kamen mit glimpflichen Verletzungen davon.
Mit 60 Stundenkilometern
frontal auf Wand geprallt
Den Angaben der Beschuldigten zufolge soll sie ihre Mutter, bei der sie lebt, am 7. Dezember 2022 „Teufel“ genannt haben und sie ins Gesicht geschlagen haben. Danach fuhr sie mit mindestens 60 Stundenkilometern frontal auf die Endersbacher Kelter auf. Bis dahin habe ihre Mutter und Oma ihrer Kinder bereits die Polizei verständigt gehabt und bei dieser „etwas von Suizid“ gesagt, führte die Angeklagte aus, die vor 2013 in psychiatrischer und psychologischer Behandlung war. Gründe dafür seien der Freitod ihres Vaters gewesen – der ihrer Überzeugung nach jedoch ermordet worden sei – und der Suizid ihres Bruders, den sie erhängt aufgefunden habe.
„Ich bin einfach losgefahren“, sagte die Beschuldigte selbst zu den Tatvorwürfen. „Ich habe erst nach dem Aufprall gemerkt, dass die zwei größeren Kinder auch dabei sind.“ Sie habe sich „verfolgt gefühlt“, erzählte die Mutter von der Fahrt, bei der sie die Weinberge nur schemenhaft wahrgenommen und bei der ihr die Lüftung des Achtsitzers in die Augen geblasen habe. Ob sie den Berg hinunter zur Kelter beschleunigt habe, wisse sie nicht mehr.
„Wenn man nichts mehr sieht, dann bremst man doch“, warf der vorsitzende Richter, Norbert Winkelmann, ein. „Ich war wie in meinem eigenen Körper gefangen“, sagte die Angeschuldigte. „Ich war nicht bei klarem Verstand. Ich hatte Angst, da kommt jemand und will mich holen und Angst, dass mir meine Kinder weggenommen werden.“ Vor dem Unfall habe es Unterstellungen vom Jugendamt und von Erzieherinnen gegeben, sie würde ihre Kinder isolieren. Der Vater der Kinder hätte wenig Zeit gehabt und die Großmutter sei vollbeschäftigt gewesen.
Am Unfallmorgen eilten ein 27-jähriger Techniker und dessen 38-jährige Kollegin der Mutter und ihren Kindern zu Hilfe. Die Ersthelfer waren an jenem Mittwochmorgen mit dem Auto auf dem Weg zur Arbeit nach Kernen-Stetten gewesen. „An die Kelter war ein Auto hingeklatscht“, erklärte der Techniker im Zeugenstand, er hätte nur noch gehofft, dass keiner tot ist. „Wo ist der Fahrer“, dachte der Mann zunächst, dieser sei vielleicht durch die Frontscheibe des Achtsitzers in die Kelter gefallen. Da sah er die Angeklagte mit einem Baby auf dem Arm, die anderen Kinder barfuß und im Pyjama auf der Straße stehen, setzte einen Notruf ab und nahm die Mutter samt ihren Kindern mit nach hinten in sein eigenes, warmes Auto. „Respekt“, lobte Richter Winkelmann die Zivilcourage.
„Alles okay?“, fragte seine 38-jährige Kollegin die an der Lippe verletzte Mutter der Kinder. „Nichts ist okay“, habe diese geantwortet. „Schauen Sie sich die Welt an, es wird nicht besser.“ Die Zeugin beschlich daraufhin ein „merkwürdiges Gefühl“. Sie fragte die Mutter der Kinder, ob sie mit Absicht auf die Endersbacher Kelter gefahren sei. Die Zeugin weiter: „Sie bestätigte das und sagte, sie hätte die Kinder in die Welt gesetzt, also würde sie diese auch wieder mitnehmen.“