Psychische Erkrankungen

Zahl der Magersüchtigen steigt weiter

Essstörungen sind ein zentrales Thema beim Weltkongress für Psychosomatik in Tübingen. Klimawandel und Kriege haben starken Einfluss auf die Psyche. Auch im Land verzeichnet die AOK eine Zunahme von Essstörungen.

Magersüchtige haben oft eine gestörte Körperwahrnehmung.

© dpa/Jens Kalaene

Magersüchtige haben oft eine gestörte Körperwahrnehmung.

Von Werner Ludwig

Während und nach der Coronapandemie hat nicht nur die Zahl der Menschen mit Essstörungen zugenommen, sondern auch die Schwere der Erkrankungen – insbesondere bei Magersüchtigen. „Viele Betroffene sind in einem so schlechten körperlichen Zustand, wie wir ihn bislang nur selten gesehen haben“, sagte Stephan Zipfel am Donnerstag zum Beginn des 27. Weltkongresses für Psychosomatische Medizin in Tübingen. Der Ärztliche Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen fungiert als Präsident der Fachtagung mit rund 500 Teilnehmern.

Corona ist laut Zipfel nicht der einzige Grund für die Zunahme von Essstörungen vor allem bei jungen Menschen. Die Pandemie habe aber bestehende Trends verstärkt – etwa eine wachsende Vereinsamung und Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Soziale Medien hätten daran wenig geändert, sondern bei vielen das Gefühl der Isolation eher verstärkt. Zudem würden dort problematische Körperideale transportiert, die ebenfalls ein Faktor für die Entstehung von Essstörungen seien. „Seit der Pandemie ist die Zahl stationärer Aufnahmen infolge von Essstörungen in den Industrieländern jährlich um zehn bis 15 Prozent gestiegen“, so Zipfel. Der Aufwärtstrend halte an, allerdings erwartet der Mediziner, dass die Kurve nun etwas abflachen wird.

Vor allem Mädchen sind betroffen

Auch die AOK Baden-Württemberg verzeichnet unter ihren Versicherten steigende Fallzahlen – vor allem bei Mädchen und jungen Frauen, auf die fast 80 Prozent der Diagnosen entfallen. So wurden 2023 bei weiblichen Versicherten bis einschließlich 19 Jahre 1765 Fälle von Essstörungen festgestellt. 2014 hatte die Zahl mit 1378 deutlich niedriger gelegen. Das häufigste Krankheitsbild ist den AOK-Zahlen zufolge mit knapp 30 Prozent (2023) die Magersucht. Dahinter folgen Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und das sogenannte Binge-Eating, bei dem Betroffene unter unkontrollierten Fressanfällen leiden. Die Zahlen beziehen sich nur auf AOK-Versicherte. Da die Krankenkasse einen Marktanteil von knapp 50 Prozent hat, liegt die Gesamtzahl der Diagnosen im Land deutlich höher. Zudem gibt es eine Dunkelziffer, weil nicht alle Betroffenen zum Arzt gehen.

Beim Kongress in Tübingen geht es auch um die Frage, wie sich andere globale Krisen wie Klimawandel und Kriege auf die psychische Gesundheit gerade junger Menschen auswirken. „Die Häufung von Krisen überfordert viele“, sagte Katrin Giel, die an der Tübinger Uniklinik die Sektion Translationale Psychotherapieforschung leitet. Ereignisse wie das aktuelle Hochwasser oder Hitzewellen vermittelten den Eindruck, „dass die Dinge kippen. Das macht jungen Leuten Angst“, sagt Giel. Manche, so Zipfel, fragten sich angesichts der Multikrise: „Wofür soll ich meine Magersucht eigentlich aufgeben?“ Andere versuchen sich vom Strom der Negativmeldungen abzuschotten. Dieser „Klimamüdigkeit“ setzen die Kongressveranstalter einen Appell für Klimaschutz und Klimaanpassung entgegen.

Modellprojekt mit Video-Therapiesitzungen

Angesichts der Zunahme von Essstörungen diskutieren die Experten auch über neue Ansätze für deren Behandlung. „Wichtig ist eine schnelle und frühe Intervention“, sagt Giel. Je länger man warte, desto schlechter seien die Erfolgsaussichten und desto höher die Rückfallquote. Wichtig sei es auch, die Familien und das soziale Umfeld der Patientinnen von Anfang an mit einzubeziehen.

Die Tübinger Psychotherapeuten und Mediziner setzen dabei auch auf moderne Technik. So beteiligen sie sich in Kooperation mit der AOK Baden-Württemberg an einem bundesweiten Modellprojekt, in dem 100 Kinder zwischen acht und 17 Jahren in ihrem bisherigen Umfeld telemedizinisch behandelt werden – etwa mit Therapiesitzungen per Video. Anschließend soll der Behandlungserfolg mit dem einer stationären Standardtherapie verglichen werden. Ein anderes Projekt setzt bei der gestörten Körperwahrnehmung vieler Magersüchtiger an, die sich trotzdem für zu dick halten. Mittels Virtueller Realität sollen Betroffene sich an das Bild ihres Körpers mit Normalgewicht herantasten und so allmählich die Angst vor einer Gewichtszunahme verlieren.

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Erstellt:
19. September 2024, 17:24 Uhr

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