Zeugnisse: „Ein Kind ist mehr als seine Schulleistung“
Mit der Zeugnisvergabe geht heute das Schuljahr zu Ende. Insbesondere wenn die Noten nicht wie gewünscht ausfallen, muss die komplette Familie damit umgehen. Dabei sollte die schulische Leistung nicht in die Beziehungsebene zwischen Eltern und ihren Kindern geraten.

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Nicht alle Schüler nehmen heute mit Freude ihre Zeugnisse entgegen. Wichtig ist, dass der Leistungsgedanke nicht die Beziehungsebene zwischen Eltern und ihren Kindern belastet. Foto: imago images/Bernhard Classen
Von Nicola Scharpf
Backnang. Zwei Familien und zwei Kinder, die heute Zeugnisse bekommen – nach einem Schuljahr, das für sie nicht verlief wie gewünscht. Familie eins lebt in einer Gemeinde nördlich von Backnang, Familie zwei ist westlich der Großen Kreisstadt zu Hause. Kind eins hatte in der zweiten Klasse Grundschule große Schwierigkeiten, Kind zwei drohte an der siebten Klasse G9 des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach zu scheitern. Beide Fälle stehen beispielhaft für viele andere Eltern und Kinder, die damit umgehen müssen, wenn die Noten im Jahreszeugnis nicht zufriedenstellend sind. Pauschal lässt sich zwar kein Rat geben, wann es gut und sinnvoll ist, dass ein Schüler ein Schuljahr wiederholt oder ein Schulwechsel stattfindet, weiß Volker Schindele aus seiner Praxis als Beratungslehrer am Max-Born-Gymnasium in Backnang. Was für ihn aber verallgemeinert Gültigkeit besitzt, ist: Die schulische Leistung sollte nicht in die Beziehungsebene zwischen Eltern und ihren Kindern geraten.
Mutter eins berichtet ausführlich über die vielen, vielen Gedanken, die sie sich um den weiteren schulischen Weg ihrer Zweitklässlerin macht und gemacht hat. Das Thema Schule sei in ihrer Familie dauerpräsent, auch weil sie und ihr Mann verschiedene Einstellungen hätten. „Es belastet einen, je nachdem wie sensibel man ist.“ Zum Beispiel hätten sie lange gehadert, wann sie ihrer Tochter sagen sollen, dass sie das Schuljahr wiederholen wird. Die Eltern wollten diese Nachricht gerne fernhalten, aber zugleich musste sie zur Sprache gebracht werden: „Es gibt für so viele Sachen keinen richtigen Zeitpunkt“, stellt die Mutter fest. Ihre Tochter, die eine ADHS-Diagnose hat und Medikamente bekommt, sei sich bewusst, dass sie Schwierigkeiten mit dem Lernstoff habe. Hinzu komme, dass das Mädchen versuche, immer alles recht zu machen – und bevor es etwas falsch mache, lieber ins Nichtstun falle. Insgesamt erlebe sie, dass es ein enormer Stress und Druck sei, den ihre Tochter habe. Mit dem Wiederholen des Schuljahrs würden sie als Eltern dem zuvorkommen wollen, dass ihre Tochter zu einem späteren Zeitpunkt wirklich sitzen bleibt. Also bekommt das Kind heute wie seine Klassenkameraden sein Zeugnis ausgehändigt und die Mutter geht hoffnungsvoll in die Sommerferien: „Mein Neffe hat mal eine Klasse wiederholt. Es war das Beste, was ihm passiert ist.“
Eltern haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder
Die Jahreszeugnisse sind in der Regel keine Wundertüten. Das, was sie an Information in Form von Noten, Textbewertungen oder anderen Arten der Leistungsrückmeldung enthalten, ist den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern normalerweise bereits bekannt. Insbesondere wenn die Versetzung in die nächste Klassenstufe auf der Kippe stand, gab es im Vorfeld Gespräche mit der Schule. „Die Entscheidung fällt nicht vom Himmel“, sagt Volker Schindele. Die Zeit der Unsicherheit liege zwischen Dezember und April. Der Zeugnistag dagegen sei ein Tag der Gewissheit: „Jetzt ist es schwarz auf weiß.“ Für diejenigen, die das Schuljahr wiederholen oder die Schule wechseln, sei das Zeugnis ein „sichtbares Zeichen dafür, dass sich in ihrem Leben etwas ändert“. Ob auch Kinder und Jugendliche, die das Schuljahr wiederholen werden, mit Vorfreude auf Unbeschwertheit in die Ferien starten können, hängt von einigen Faktoren ab – zum Beispiel von der Eltern-Kind-Beziehung. Schindele mag Formulierungen wie „Mein Kind ist ein schlechter Schüler“ nicht. Der Beratungslehrer, der die Fächer Religion, Geschichte und Psychologie unterrichtet, erklärt: „Aus Angst vor der Zukunft des Kindes sind Eltern oft defizitorientiert. Ich erlebe das immer wieder. Diese Angst wird auf das Kind projiziert.“ In solchen Fällen würden Eltern sich nicht fragen: Welche Stärken hat mein Kind? Dabei wäre das eine wichtige Grundhaltung, dass das eigene Kind eben Stärken und Schwächen habe. Bei schlechten Zensuren sollte das Kind nicht aus der Liebe seiner Eltern fallen: „Ein Kind ist mehr als die Leistung in der Schule.“ Der Leistungsgedanke sollte nicht die Beziehungsebene belasten, findet der Beratungslehrer. So sieht Schindele auch das Thema Belohnung zum Zeugnis skeptisch. Pauschale Belohnung in Form von Geld verpuffe und zerre die Leistung in die Beziehungsebene hinein. Nicht die Note sondern die Anstrengung sollten Eltern sehen und honorieren. Er empfiehlt, im Vorfeld mit dem Kind über dessen Ziele zu sprechen und am Schuljahresende zusammen einen Ausflug zu unternehmen oder ein großes Eis essen zu gehen als Zeichen: „Wir haben es geschafft. Ein Schuljahr ist für die ganze Familie anstrengend.“
Insofern hat Mutter zwei wohl vieles richtig gemacht: Ihre 14-jährige Tochter kam von sich aus auf sie zu mit dem Wunsch, die 7. Klasse freiwillig wiederholen zu wollen. Unschließbar groß erschienen der Jugendlichen die Lücken in Mathe, die sich aufgrund pubertätsbedingt mangelnder Lernmotivation und eines schwierigen Klassengefüges aufgetan hatten. „Der Fünfer in Mathe steht“, sagt die dreifache Mutter. „Ich bewerte meine Kinder nicht nach Noten. Als Mama schaue ich auf andere Werte. Ich rechne meiner Tochter an, dass sie die Schwierigkeiten in Mathe ernst nimmt, sich Gedanken macht.“
„Auf eine Note brauche ich nicht noch eins draufsetzen“
Schule betrachtet die Mutter als Job ihrer Kinder, der zufriedenstellend erledigt werden soll. Sie habe zwar Interesse an den Noten ihrer Tochter, schließlich sei das der Lohn, den sie bekomme. „Aber es geschieht keine Wertung. Auf eine Note brauche ich nicht noch eins draufsetzen.“ Ihr Signal an ihre Kinder: Schlechte Noten sind kein Problem. „Nur wenn sie faul waren und dann jammern, brauchen sie nicht auf Verständnis hoffen.“ Sie stehe zwar beratend zur Seite, aber die Entscheidung, ob sie das Schuljahr wiederholt, liege bei ihrer Tochter. Spätestens morgen, einen Tag nach Zeugniserhalt, muss die Jugendliche der Schule ihre Entscheidung mitteilen. Wie auch immer sie ausfällt, „es ist keine riesengroße Wolke, die über der Familie schwebt“, sagt die Mutter. Weil ihre beiden Söhne ebenfalls vor Weggabelungen im Leben stehen – der eine hat seine Mittlere Reife abgelegt, der andere macht in einem Jahr Abitur –, verliere sich das mit dem Fünfer in Mathe ein bisschen im Alltag.
So betrachtet, kann man es auch halten wie Fritzchen: Die Mutter fragt: „Fritzchen, wo ist dein Zeugnis?“ Fritzchen: „Das habe ich einem Freund geborgt. Der will damit seinen Vater erschrecken.“
Das Zeugnis sollte als Information über die Lernentwicklung im vergangenen Schuljahr und nicht als allgemeine Beurteilung der Person gelesen werden.
Eltern sollten sich klar machen, welche Erwartungen sie an ihr Kind haben, und dessen Leistungen nicht mit den Leistungen der Mitschüler vergleichen.
Stattdessen sollten sie auf Entwicklungen und Verbesserungen des Kindes im Vergleich zu früheren Zeugnissen achten, positive Entwicklungen loben und das Kind durch gemeinsame Aktivitäten belohnen.
Bedenken sollten Eltern, dass auch das Kind Erfolg haben möchte und mit einem schlechten Zeugnis unzufrieden ist, auch wenn es sich das nicht immer anmerken lässt.
Eltern sollten sich Zeit für ein ruhiges Gespräch nehmen. Dabei können sie das Kind fragen, womit es selbst zufrieden und womit es unzufrieden ist.
Vermieden werden sollte, das Kind als ganze Person zu kritisieren („Ich wusste, dass du eine Niete bist“). Vielmehr sollten Eltern genau sagen, welche Leistungen sie gut finden und welche besser sein könnten.
Eltern sollten kritisch überlegen, ob ihr Kind in der Schule überfordert ist. Klare Anforderungen sind notwendig, länger andauernde Überforderung schadet. Dann sollten gemeinsam mit dem Kind die nächsten Schritte geplant werden: Welche Hilfe braucht es und wie können sowohl die Schule als auch die Eltern Hilfe anbieten? Was kann das Kind selbst tun? Dazu gehört der Austausch mit der Schule, beispielsweise um mit den Lehrkräften über individuelle Fördermöglichkeiten zu sprechen.
Auch die Überlegung, ob nachlassende Leistungen außerschulische, beispielsweise familiäre Ursachen haben können, gehört dazu. Wer zu keiner Lösung findet, sollte Beratungsangebote in Anspruch nehmen.