Zeugnisse mit Blumensymbolen statt Noten

Das erste Schuljahr, in dem Grundschüler an hiesigen Versuchsschulen nicht mit Zensuren für ihre Leistung bewertet werden, sondern mit bildlichen Darstellungen und Gesprächen, geht zu Ende. Die Murrhardter Walterichschule sowie die Backnanger Plaisirschule und die Gemeinschaftsschule in der Taus haben an dem Versuch teilgenommen. Lehrer, Eltern und Schüler schildern ihre Erfahrungen im landesweiten Schulversuch.

Laura Prokop (links) und Miriam Walz von der Gemeinschaftsschule in der Taus befürworten das Blümchenprinzip. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Laura Prokop (links) und Miriam Walz von der Gemeinschaftsschule in der Taus befürworten das Blümchenprinzip. Foto: Alexander Becher

Von Nicola Scharpf

Backnang. An 37 baden-württembergischen Versuchsgrundschulen, darunter die Murrhardter Walterichschule sowie die Backnanger Plaisirschule und die Gemeinschaftsschule (GMS) in der Taus, läuft seit diesem Schuljahr ein landesweiter Versuch, bei dem die Kinder nicht in Form von Noten bewertet werden, sondern lernförderliche Rückmeldungen zu ihren Leistungen erhalten. Wenn die Beteiligten – Lehrer, Eltern, Schüler – auf dieses erste Versuchsschuljahr zurückblicken, stellen sie fest: Vieles ist in der Entwicklung. Das Umdenken vom System der Ziffernnoten hin zur Leistungsbewertung mit Bildern, Grafiken und Gesprächen ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen wird.

Protokolle und Entwicklungsgespräche

Mit dem Lernen ist das wie mit einer Blume, sagen die Lehrerinnen Miriam Walz und Laura Prokop, die an der GMS in der Taus die Projektleitung für den Schulversuch innehaben. „Das Pflänzchen fängt ganz klein an. Und trotzdem sieht man schon etwas“, schildert Walz, die in Klassenstufe eins unterrichtet. „Wie die Blume Sonne und Wasser und Zeit braucht zum Wachsen, benötigen die Kinder Zeit und Übung und Aufmerksamkeit zum Lernen“, ergänzt Prokop, die in der zweiten Klassenstufe lehrt. Dieses Blümchenprinzip sei den Kindern nach dem ersten Jahr im Schulversuch schon sehr einleuchtend, sind sich die beiden einig. Anders als ein Smiley oder Sternchen sei eine Blume nicht emotional wertend, weshalb die Schule dieses Symbol in verschiedenen Stadien – vom keimenden Samen bis zur Blume in voller Blüte – als Zeichen der Leistungsrückmeldung gewählt hat. Bei Lernzielkontrollen, also Tests, und in Lernentwicklungsgesprächen, bei denen die Lehrerinnen mit den Eltern und dem jeweiligen Kind dessen individuellen Lernprozess differenziert erörtern, kommen die Blumen zum Einsatz – gepaart mit Aussagen zur Kompetenz des Kindes in verschiedenen Bereichen. Dabei wird das Kind direkt angesprochen nach der Art „Du kannst ...“ flüssig lesen oder im Zahlenraum bis zehn rechnen und weiteres. Das Kultusministerium hat die Kompetenzen festgelegt, sodass sie verbindlich für alle am Versuch teilnehmenden Schulen gelten. Die Zeugnisse, die die Erst- und Zweitklässler zum Schuljahresende bekommen, ähneln den Protokollen der Lernentwicklungsgesprächen: Sie sind in tabellarischer Form gehalten, es gibt keinen Fließtext.

Nachdem an der GMS in der Taus ab der fünften Klasse bereits nach einem ähnlichen Konzept gearbeitet wird, sei man zum Start des Schulversuchs vom Prozess her bereits weit gewesen und könne darauf zurückgreifen, sagt Prokop. Wichtig für die Lernenden und befriedigend für sie als Lehrende sei, dass eine viel differenziertere Rückmeldung möglich sei. Beispiel Diktat: Nach dem Ziffernsystem gebe es für zehn Fehler die Note fünf. Aus dieser Note gehe nicht hervor, dass das Kind zwar an der Rechtschreibung noch zu arbeiten habe, aber schon in den Linien schreiben könne, Wortgrenzen und Satzgrenzen erkennen könne. „Man findet immer etwas Positives“, ergänzt Walz. Mit den Blumen und dem Benennen von Kompetenzen werde das darstellbar. Für Lehrer ist das mehr Aufwand. Walz: „Es geht nicht um unseren Mehraufwand, sondern um die Kinder und wie man sie stärken kann.“ In den zurückliegenden Monaten haben Walz und Prokop viel positive Rückmeldung von Kindern und Eltern für das neue Bewertungssystem bekommen.

Noten beurteilen eine Leistung, ohne dass die Information den Kindern nützt

Dieser Einschätzung schließt sich Christine Nagel an. Insgesamt sei der Schulversuch gut angelaufen, so die Rektorin der Backnanger Plaisirschule. Schon vor Beginn des Versuchs habe man auf individuelles Lernen und individuelle Rückmeldung gesetzt, sei aber in Schulberichten und Zeugnissen an die offiziellen Vorgaben gebunden gewesen. „Wir freuen uns, nun so weiterarbeiten zu können.“ Noten würden für das Weiterlernen nicht helfen. Sie würden eine Leistung beurteilen, ohne dass den Kindern diese Information nütze. Bei der lernförderlichen Rückmeldung werde nicht nur zurückgeblickt, sondern auf anschauliche und motivierende Art auch voraus auf den weiteren Lernweg. „Jeder will zu dieser großen Pflanze kommen“, sagt Nagel.

Zeugnisse mit Blumensymbolen statt Noten

© Alexander Becher

Die Kinder bekämen Ausblicke auf die nächsten Ziele und gezeigt, wie sie dahin gelangen und wo sie ansetzen können. „Man gibt den Lernenden mehr Verantwortung. Der Weg wird in den Vordergrund gerückt, der Fokus ist auf dem Blick nach vorne.“ Weil sich diese neue Form der Leistungsrückmeldung in der ständigen Weiterentwicklung befinde, seien viele Absprachen nötig. Auch sei die Zeit manchmal zu knapp, um Eltern detailliert genug auf anstehende Weiterentwicklungen oder geänderte Vorgaben vorzubereiten, nennt Nagel einen Kritikpunkt am Schulversuch. Auf Elternseite habe sie Ängste und Unsicherheiten registriert. „Noten sind bei den Eltern noch ganz klar im Kopf.“ Mit Elternabenden und Informationen will die Schule ein Umdenken anregen. Ja, all das ist Aufwand, „den wir gerne erbringen, weil es eine gute Sache ist“.

Davon ist auch Kristina Müller überzeugt. Die Vorsitzende der Elternvertreter an der Plaisirschule hat eine Tochter in der vierten und einen Sohn in der zweiten Klasse. Daher ist sie mit beiden Formen der Leistungsrückmeldung vertraut. Sie persönlich ist froh über den Schulversuch. Andere Eltern seien allerdings von Anfang an dagegen gewesen. Die Skeptiker seien auch nach dem ersten Versuchsjahr noch da. Wobei sie als Vorsitzende der Elternvertreter keine Beschwerden erreicht hätten. „Es braucht seine Zeit. Viele sehen im Schulversuch keine Vorteile.“ Insbesondere wenn es darum gehe, wie die Kinder nach der vierten Klasse damit klarkommen sollen, ab dann Noten zu erhalten, seien Ängste vorhanden. „Manche Eltern haben Probleme, weil man nicht weiß, wohin es führt.“ In puncto Leistung würden viele Eltern Druck verspüren. Bei schlechten Noten könne man gleich intervenieren. Beim Schulversuch funktioniere das nicht mehr. „Für diese Eltern ist es dann schwierig.“ Für die Kinder aber, davon ist Müller überzeugt, „ist es eine tolle Sache“.

Kinder sollen nicht demotiviert werden

Die detaillierten Rückmeldungen empfinde sie als gut für ihren Sohn, weil sie nicht demotivierend wirken würden. Aufgrund der tabellarischen Form könnten die Kinder untereinander ihre Leistungen nicht so einfach vergleichen. Das Raster sei verständlich formuliert. Dadurch, dass die Lehrer nun verstärkt mit den Eltern im Austausch seien, gebe es mehr Möglichkeiten, nachzuhaken. Sie habe für ihren Sohn zwei Entwicklungsgespräche gehabt und diese als „super“ und „transparent“ empfunden. „Wir wissen, wo es Stärken und Schwächen gibt. Man muss nicht mit Noten Rückmeldung geben. Mein Sohn kennt das Notensystem nicht. Er weiß trotzdem, wo er steht und bekommt jede Menge Rückmeldung auf verschiedene Weise.“

Lernförderliche Rückmeldung

Der Schulversuch Der Versuch „Lernförderliche Leistungsrückmeldung in der Grundschule“, bei dem die Kinder bis einschließlich Klasse vier keine Noten bekommen, hat in diesem Schuljahr in den Klassen eins und zwei der teilnehmenden Grundschulen begonnen. Er ist auf vier Jahre ausgelegt. In den folgenden Schuljahren bis 2025/2026 wird der Versuch in den bereits teilnehmenden Klassen fortgeführt und jeweils um die neuen ersten Klassen erweitert.

Die Auswertung Über drei Jahre wird der Versuch vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg evaluiert; im vierten Jahr wird der Evaluationsbericht erstellt. Lehrkräfte, Eltern und Schüler haben bereits erste Fragebögen ausgefüllt. Es gibt Vergleichsgruppen, die nicht am Schulversuch teilnehmen. Ziel ist, Erkenntnisse für die Ausgestaltung des Versuchs zu gewinnen – zum Beispiel wie die beteiligten Personengruppen die Umsetzbarkeit und Akzeptanz des Versuchs einschätzen oder wie die Gelingensbedingungen in den Schulen sind.

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Erstellt:
5. Juli 2023, 06:00 Uhr

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