Ukrainerinnen in Filderstadt berichten

Zukunft ungewiss: Wie Frauen aus der Ukraine am Krieg leiden

Der Sohn kämpft an der Front, der Ehemann wird bei einem Raketenangriff verwundet, ein Schüler berichtet vom erschossenen Vater – geflüchtete Ukrainerinnen leben in Filderstadt in ständiger Angst um ihre Liebsten in der Heimat.

Geflüchtete Ukrainerinnen aus  Poltawa auf dem Dach des  Rathauses in Filderstadt: Kataryna Voitenko, Nataliia Klymko, Lena Nefodova und Elena Yeherova (von links).

© /Ines Rudel

Geflüchtete Ukrainerinnen aus Poltawa auf dem Dach des Rathauses in Filderstadt: Kataryna Voitenko, Nataliia Klymko, Lena Nefodova und Elena Yeherova (von links).

Von Michael Weißenborn

Seit Russland vor mehr als drei Jahren seinen Großangriff auf die Ukraine begonnen hat, führt Kataryna Voitenko, eine Mathematiklehrerin aus der Ukraine, ein Leben als Flüchtling. Im März vor drei Jahren war sie zusammen mit ihrer Mutter aus Poltawa , einer Stadt in der Ukraine, 350 Kilometer südöstlich von Kiew, zu ihrer Schwester nach Filderstadt geflohen. Die Mutter ist wieder zurück in der Ukraine. Sie hat Sprachbarriere und Heimweh nicht ausgehalten.

„Leben hier ist leicht und schwer“

Seither verfolgt Voitenko, die in der Walldorf-Schule in Stuttgart-Sillenbuch inzwischen wieder als Mathe-Lehrerin arbeitet, das Kriegsgeschehen allein aus der Ferne. Das Bangen um die Familie zu Hause lässt sie dabei nie los. Immer wieder verfolgt sie den Tag über auf dem Handy die Schlagzeilen zum Kriegsgeschehen in ihrer Heimat. „Mein Leben hier ist beides, leicht und schwer“, erzählt die 34-Jährige. Da sei die Arbeit und die neue Sprache, die sie schon gut meistert. Und gleichzeitig die Furcht um die Lieben in der Ukraine. Sie sammelt Geld für ukrainische Soldaten und Hilfsgüter.

Besonders schmerzlich erfuhr Voitenko Trennung und Krieg, als die Russen eines Morgens Anfang September 2024 in Poltawa eine militärisch genutzte Hochschule mit Raketen beschossen. Ihr Mann und ihr Vater, beide Zivilangestellte beim ukrainischen Militär, waren zu diesem Zeitpunkt in dem Gebäude. Ihr Mann wurde schwer verletzt, ihr Vater blieb unversehrt. Bei dem Angriff verloren 51 Menschen ihr Leben. „Das war schwer“, erzählt Voitenko. „Ich wollte sofort zu meinem Mann, hatte aber gerade meine neue Lehrerstelle angetreten.“ Mehr als 1100 Tage nachdem sie der russische Angriffskrieg zusammen mit anderen Ukrainern nach Filderstadt vertrieben hat, habe sie sich an ein Leben in Ungewissheit fast schon gewöhnt. Kann sie sich eine Zukunft in Deutschland vorstellen? „So weit denke ich nicht“, sagt sie. „Ich hoffe aber, dass der grausame Krieg bald zu Ende ist.“

Die Ukrainer fanden, so berichten es die Geflüchteten, in Filderstadt eine warme und hilfsbereite Aufnahme. Auch wenn zeitweise Unmut über angeblich üppige Sozialleistungen und ein „Zwei-Klassen-Recht“ herrschte: Anders als Geflüchtete aus anderen Ländern erhalten Ukrainer Bürgergeld.

Filderstadts Oberbürgermeister Christoph Traub (CDU) betont, wie wichtig das ehrenamtliche Engagement bei der Ukraine-Hilfe sei. Als die ersten Kriegsflüchtlinge kamen, seien diese überwiegend in Privatwohnungen untergekommen. „Das hätten wir so als Stadt gar nicht stemmen können“, sagt Traub. Womöglich dabei geholfen hat, dass seine Stadt gemeinsam mit den beiden anderen Filder-Gemeinden Leinfelden-Echterdingen und Ostfildern schon seit 1988 eine aktive Städtepartnerschaft mit dem mehr als 2000 Kilometer entfernten Poltawa in der Zentralukraine unterhält.

Russlands Überfall

Es ist Baden-Württembergs älteste Städtepartnerschaft mit der Ukraine, angestoßen einst von Filderstädter Frauen, die in der Spätphase des Kalten Krieges den friedlichen Austausch noch mit der Sowjetunion Michael Gorbatschows suchten. Wegen des russischen Angriffskriegs haben die vielfältigen Kontakte der drei Filder-Gemeinden zuletzt arg gelitten. Aber: „Viele Bürger in Poltawa haben hier Freunde und Bekannte“, berichtet Elena Yeherova, ebenfalls eine Geflüchtete aus Poltawa. Und OB Traub nimmt zwar in seiner Gemeinde Kriegsängste vom Altersjubilar bis zu den Jüngeren wahr, doch an seiner Solidarität mit der Partnerstadt und der Ukraine lässt er keinen Zweifel aufkommen: „Für mich stand vom ersten Kriegstag an fest, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Überfall Russlands handelt, getrieben von Wladimir Putin.“

Elena Yeherova betrieb in Poltawa ein Kosmetikstudio, bevor sie gleich zu Beginn des russischen Großangriffs zu ihrer Cousine nach Deutschland floh. Und seit Juni 2022 putzt sie in einem großen Stuttgarter Wellness-Zentrum, dazu als Mini-Jobberin in Büros. Zurückgelassen hat sie ihren 22-jährigen Sohn, der in der Armee dient, und eine kranke Mutter. „Das Leben hier ist gut, wenn man verdrängt, was in der Ukraine vor sich geht“, meint die zupackende 44-Jährige. Zu Kriegsbeginn war ihr Sohn an der Front in Slowjansk im Donbass im Einsatz. Da stand sie Todesängste aus, weil sie wochenlang keine Nachricht von ihm hatte. Jetzt ist er in Poltawa stationiert, rund 200 Kilometer hinter der Front im Osten. Das lässt sie ruhiger schlafen. Sie telefoniert jeden Tag mit Mutter und Sohn und verfolgt den Krieg genau.

In Deutschland will sie bleiben, weil sie hier Medikamente für die kranke Mutter kaufen und ihrem Sohn Geld schicken kann. Mit seinem Sold kommt der angesichts der hohen Preise in der Ukraine kaum über die Runden. Laut einer neuen Umfrage will mehr als die Hälfte der geflüchteten rund eine Million Ukrainer in Deutschland bleiben. Trotz bürokratischer Hürden, Stichwort Anerkennung von Berufsabschlüssen, jedenfalls so lange der Krieg andauert. Ob es zu einem Waffenstillstand kommt, sei „schwer zu sagen“, meint Yeherova. Sie befürchtet, die Ukraine werde zum „Spielball der starken Männer“, sagt sie mit Blick auf das Hin und Her zwischen US-Präsident Donald Trump und dem Kreml-Herrscher Putin. Daher seien Deutschland und Europa so wichtig. „Ohne die Unterstützung der Europäer hätte die Ukraine keine Chance“, so Yeherova.

„Jeder Tag bringt Gefahren“

Auch Lena Nefodova lebt mit Ehemann und Tochter in Filderstadt. „Unsere Tochter geht in die erste Klasse“, erzählt die 38-Jährige stolz und dankbar zugleich. Einer aktuellen Studie zufolge sprechen aus der Ukraine geflohene Kinder und Jugendliche inzwischen ganz gut Deutsch. Viele haben aber aufgrund ihrer ungewissen Zukunft – zurückkehren oder bleiben? – nur ein geringes Zugehörigkeitsgefühl. Zur Lage in der Ukraine meint Nefodova, die Arbeit als Buchhalterin sucht: „Jeder Tag bringt Gefahren, weil wir nie wissen, wo die russischen Raketen als nächstes einschlagen.“

„Ich lebe von einem Tag auf den nächsten“, erzählt Nataliia Klymko. Die 52-Jährige Ex-Abteilungsleiterin aus der Regionalverwaltung blickt wenig optimistisch in die Zukunft. Angesichts der fortgesetzten russischen Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung wie zuletzt am Palmsonntag auf Sumy und eine gute Woche zuvor auf das südukrainische Kriwi Rih ist sie wie ihre ganze Familie in Poltawa „erschöpft“, wie sie sagt. Doch sollte die Ukraine für einen Waffenstillstand auf Teile des Landes verzichten, wie gerade wieder von Washington ins Spiel gebracht? Da wird Klymko kategorisch: „Alle besetzten Gebiete müssen zurück“, sagt sie und verweist auf mutmaßliche russische Kriegsverbrechen wie das in Butscha. Auch habe sie Bekannte, die in den besetzten Gebieten leben müssten. „Die sind in ständiger Angst.“

Folgen im Klassenzimmer

Die Ukrainerinnen in Filderstadt sind wie viele ihre Landsleute in der Heimat kriegsmüde. Doch wollen sie nicht aufgeben, fordern Gerechtigkeit. Und das, obwohl durch russische Terrorbombardements und Krieg jeden Tag neue tödliche Gefahren und unermessliches Leid lauern – manchmal mit dramatischen Folgen bis hinein in ein Klassenzimmer auch anderswo in der Region Stuttgart: Eines grauen Schulmorgens vor Weihnachten, erinnert sich eine Grundschullehrerin genau, kommt einer ihrer ukrainischen Schüler, sonst immer aufgeweckt, schweigend in die Klasse, legt seinen Kopf auf den Tisch und weint. „Mein Papa ist heute Nacht im Krieg erschossen worden“, sagte der Neunjährige, so die Lehrerin: „Wir waren alle geschockt.“

Der Austausch mit der Ukraine

Poltawa Filderstadt, Leinfelden-Echterdingen und Ostfildern unterhalten mit der 300 000-Einwohner-Stadt Poltawa in der Zentralukraine seit 1988 die älteste Partnerschaft mit einer ukrainischen Stadt in Baden-Württemberg. Kümmerten sich die Fildergemeinden zuvor um Umweltschutz, die medizinische Versorgung oder den Schüler- und Lehreraustausch, stand wegen des Krieges zuletzt die humanitäre Versorgung im Vordergrund: Seit Februar 2022 kamen fast 500 000 Euro an Spenden für Lebensmittel, Medikamente oder die Behandlung von Kriegsverletzten zusammen.

Weitere Kontakte Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs unterhielten acht weitere Kommunen im Südwesten  Partnerschaften mit der Ukraine, darunter Freiburg mit Lwiw (Lemberg), Baden-Baden mit Jalta oder Ludwigsburg mit Jewpatorija. Seither sind laut Entwicklungsinitiative „Engagement Global“ 25 neue, zum Teil losere Partnerschaften, hinzugekommen. Außerdem unterhalten die MVV Netze Mannheim und Netze BW Betreiberpartnerschaften mit ukrainischen Versorgern.

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Erstellt:
24. April 2025, 14:22 Uhr

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