Zuversicht mitlangen Zähnen

Angela Merkel verspricht zum Jahresbeginn einen schwarz-roten Neuanfang – der ist bitter nötig

„Viele von Ihnen haben sehr mit der Bundesregierung gehadert“: Angela Merkel sagt es gleich zu Beginn ihrer Neujahrsansprache. Ein Jahr des Haderns war das zurückliegende nach Meinung der Bundeskanzlerin also, was sich nach besonnener Selbstkritik anhört, ohne einen allzu strengen Unterton mitschwingen zu lassen. Ein Jahr der Zuversicht mit langen Zähnen. Der Duden nennt hadern als Verb schwach, wenngleich im Gebrauch gehoben. Um dann als Synonyme anzubieten: sich betrogen fühlen, enttäuscht sein, unzufrieden sein, sich verletzt fühlen oder umgangssprachlich sich in seiner Haut nicht wohlfühlen. Jeder suche sich aus diesem Korb das, was seiner politisch erregten Gemütslage 2018 näher gekommen ist als hadern.

Spannender wird es sein, wie Angela Merkel die Stimmung in Deutschland in ihrer Ansprache zum nächsten Jahreswechsel einschätzen dürfte – insofern sie dieser oder einer anderen Bundesregierung dann noch vorsitzen sollte. Was als einordnender Nachklapp ganz zu Beginn dieses noch gänzlich neuen Jahres so notwendig einschränkend ist wie wenig absehbar.

Denn 2019 könnte ein Berliner Jahr des Unerwarteten, kaum Vorhersehbaren werden. Nicht nur, weil Merkel mit ihrem bewundernswert schmerzlosen Rückzug von der CDU-Spitze geradezu generalprobenmäßig bewiesen hat, schnelle und harte Schnitte setzen zu können, wenn sie glaubt, Verantwortung in andere Hände legen zu können. Der souveräne Verzicht auf den Parteivorsitz führt allen in der schwarz-roten Koalition eindringlich vor Augen, dass die Kanzlerin vor persönlichen Konsequenzen nicht zurückschreckt, wenn sie zu dem Schluss kommt, genug sei genug.

Die SPD, auch oder gerade im Wahljahr 2019 weiter ein politischer Notfallpatient, wird das sehr genau beobachten müssen. Das Ringen mit den Bundesländern um den Bildungspakt und sichere Herkunftsstaaten, die Konkretisierung des Fachkräfte­einwanderungsgesetzes, der Umgang mit dem Diesel-Skandal, das Minenfeld der Gesundheitspolitik oder das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche haben ihre Koalitionstücken. Der Brexit Ende März, die Europawahl am 26. Mai, drei spätsommerliche Landtagswahlen im volatilen Osten Deutschlands (Brandenburg, Sachsen und Thüringen): Unabwägbarkeiten, wohin man schaut. Von bösen Übersee-Überraschungen ganz zu schweigen. In dieser Gemengelage will die SPD im Herbst darüber mit viel basis­demokratischem Brimborium befinden, wie und ob sie weiter zur Koalition mit der Union stehen will. Gezittert wird davor nur in der SPD selbst.

Aber auch in der Union wird man Merkels Kurs noch genauer taxieren müssen. Annegret Kramp-Karrenbauer wird als neue CDU-Chefin den Eindruck vermeiden müssen, von außen personell in das Bundeskabinett hineinregieren zu wollen. Ihr Einfluss etwa, Friedrich Merz an die Seite Merkels stellen zu können, ist deshalb mehr als begrenzt. Auch das interpretationsoffene Raunen über mögliche Kanzlerkandidaten , das mehr Kramp-Karrenbauer bremsen als Merz befördern soll, sollte mit einem Blick auf Merkels kühle Gelassenheit schnell für längere Zeit eingestellt werden.

Wie auch immer: 2019 darf nicht erneut ein Jahr werden, in dem breite Teile der Bevölkerung mit ihrer Regierung über die notwendige parteipolitische Kontroverse hinaus hadern. In dem der Zweifel am Großen und Ganzen der Demokratie braune Wurzeln austreibt. Merkel traut sich die Wende zum Besseren zu. Das neue Jahr wird zeigen, wie groß ihre Kraft noch ist.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de

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Erstellt:
2. Januar 2019, 03:14 Uhr

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