„Ein Eingeständnis von Fehlern“

Michael Ballack spricht über die Pläne von Oliver Bierhoff

Dass der deutsche Fußball international den Anschluss verloren hat, wundert Michael Ballack nicht. Der frühere DFB-Kapitän kritisiert schwere Versäumnisse in der Nachwuchsarbeit.

Frage: Herr Ballack, was sagt es über das Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und England aus, wenn der Spitzenreiter der Bundesliga beim Tabellendritten der Premier League mit 0:3 untergeht?

Antwort: Das war für mich keine Riesenüberraschung. Es hat sich nur bestätigt, dass die Premier League das Nonplusultra ist und weit über der Bundesliga steht. In England spielen die besten Spieler der Welt, dort gibt es das meiste Geld.

Frage: Das Ergebnis war aber extrem ernüchternd.

Antwort: Es war am Ende sicher eindeutiger als der Spielverlauf. Fußballerisch ist der BVB eine starke Mannschaft. Aber das allein reicht auf diesem Niveau nicht. Man hat in den entscheidenden kleinen Momenten eindrucksvoll gesehen, worin der Unterschied zwischen Premier League und Bundesliga besteht: in der Robustheit, der Härte, der Abgezocktheit der Spieler.

Frage: Was passiert dann erst, wenn nächste Woche Schalke 04 auf Manchester City trifft? Muss man das Schlimmste befürchten?

Antwort: Im Fußball können die verrücktesten Sachen passieren. Aber es ist ja nicht nur ein Spiel, es sind zwei. Es gibt sicher nicht viele, die auch nur einen Pfifferling auf Schalke setzen. Es geht auch darum, sich ordentlich aus der Affäre zu ziehen. Man repräsentiert ja auch den deutschen Fußball.

Frage: Haben wenigstens die Bayern gegen Liverpool eine Chance?

Antwort: Das ist für mich ein 50:50-Spiel. Die Bayern sind aufgrund ihrer Klasse und Erfahrung auch weiterhin in der Lage, jeden Gegner der Welt zu schlagen. Allerdings ist der FC Liverpool mit seiner Spielweise im internationalen Fußball momentan das Maß aller Dinge. Dieses Pressing, dieses Tempo, dieser Offensivfußball – daran orientieren sich sehr viele. Es ist die Spielphilosophie, die Jürgen Klopp schon in Dortmund bis zur Perfektion getrieben hat. Mit noch besseren Spielern führt er sie in Liverpool sogar noch weiter.

Frage: Wie sehen Sie die Bundesliga im internationalen Vergleich?

Antwort: Die Strukturen sind gut, in den Vereinen wird professionell gearbeitet, die Stadien sind voll, es gibt eine intakte Fankultur und einen gesunden Wettbewerb. Das müssen uns andere Ligen erstmal nachmachen.

Frage: Aber?

Antwort: Qualitativ bewegen wir uns sicher nicht auf dem allerhöchsten Niveau. Das sieht man ja jedes Jahr im Europapokal. Das ist natürlich auch eine Frage des Geldes. In England und auch in anderen Ligen wird so viel mehr ­bezahlt, dass auch durchschnittliche Spieler irrsinnige Ablösesummen kosten. Es wird für die Bundesliga immer schwerer, Topspieler nach Deutschland zu holen.

Frage: Was folgt daraus?

Antwort: Die Vereine müssen das als Chance sehen, den Blick noch stärker auf den Nachwuchs und die Ausbildung zu richten. Das ist zu einem attraktiven und lukrativen Geschäft geworden. Derzeit profitiert die Bundesliga beispielsweise von englischen Talenten.

Frage: Aus dem eigenen Nachwuchs kommt aber schon längere Zeit eher wenig nach oben.

Antwort: Ich habe gerade gelesen, dass Oliver Bierhoff (DFB-Direktor, Anm. d. Red.) gesagt hat, der DFB brauche eine Ausbildungsreform. Man müsse den Jugendlichen wieder den Spaß am Fußball vermitteln, mehr Freiheiten geben, nicht so viele Vorgaben. Das hat mich gewundert. Denn bedeutet das im Umkehrschluss: Hat der DFB in den vergangenen Jahren eine falsche Richtung vorgegeben?

Frage: Sieht fast so aus.

Antwort: Das ist ein Eingeständnis, Fehler in der Ausrichtung der Ausbildung gemacht zu haben. Wenn es jetzt heißt, man müsse den Fußballern wieder mehr Freiheiten geben, dann erinnert mich das stark an die Zeit vor zehn oder zwanzig Jahren.

Frage: Die Zeit, in der Sie groß geworden sind.

Antwort: Es ist doch noch immer unverändert: Die Topspieler, die am Ende den Unterschied ausmachen, repräsentieren genau das: Es sind Enfants terribles, die nicht mit dem Mainstream schwimmen, die ihren eigenen Weg gehen, teilweise selbstständig denken und handeln, auch mal ihren eigenen unbequemen Kopf haben und nicht nur stur die Vorgaben ihrer Konzepttrainer umsetzen. Ich bin erstaunt, dass man sich jetzt plötzlich zurückbesinnt.

Frage: Das muss eine Genugtuung sein. Sie sind mit Ihrer Art beim DFB oft genug angeeckt.

Antwort: Schauen Sie: Der Fußball ist und bleibt ein einfaches Spiel, aus dem man keine Wissenschaft machen muss. Mag sein, dass sich in der Trainingsgestaltung oder Organisation rund um das Team vieles geändert und verbessert hat. Eines aber wird relativ gleich bleiben: das Bild eines perfekten Fußballers. Um ein solcher zu werden, bedarf es in der Ausbildung zwingend einer gewissen Individualität und Freiheit, um sich entwickeln zu können. Darf ich einen Vergleich nennen?

Frage: Gerne.

Antwort: Ein Künstler ist ein Künstler, weil er keinen Zwängen unterliegt und alle Freiheiten hat. Nur so kann er zu dem werden, was er am Ende ist. Das ist bei Topfußballern nicht anders. Deshalb bedarf es in der Ausbildung einer gewissen Sensibilität, Jugendliche entsprechend zu führen und zu begleiten. Das sollten Toptrainer sein – meiner Meinung nach Leute, die die nötige langjährige Erfahrung haben und bestenfalls, aber nicht zwingend, das selbst in ihrer Spielerkarriere durchlaufen haben.

Frage: Nur Ex-Profis können gute Trainer sein?

Antwort: Natürlich nicht! Ich habe nichts gegen die jungen Konzepttrainer. Das sind superengagierte und motivierte Leute, die von morgens bis abends arbeiten. Aber das ist doch nur die Basis. Im absoluten Spitzenbereich, wenn es darum geht, die Spieler ans Topniveau zu führen, dann braucht es auch Trainer mit Erfahrungswerten, die in der Ausbildung eben nicht vermittelt werden können. Jetzt sieht man, wohin der deutsche Fußball mit seiner Trainerausbildung gekommen ist. So weit, dass Oliver Bierhoff Fehler eingestehen muss, nachdem er bei der WM die Quittung bekommen hat.

Frage: Sie haben es schon viel früher gewusst?

Antwort: Die Bewertung der Verantwortlichen findet oft erst nach einem Misserfolg statt. Ich erinnere aber daran, dass es schon in der Vergangenheit genügend Leute gegeben hat, die auf Missstände hingewiesen haben. Denken Sie nur an Mehmet Scholl, der den Finger in die Wunde gelegt hat und anschließend viel Prügel einstecken musste. Dabei hat er selbst im Nachwuchs gearbeitet und weiß genau, worin die Problematik liegt, wenn man in der Ausbildung von Spielern irgendwelche Vorgaben von oben umsetzen muss. Ich kann verstehen, das es ermüdend ist, immer wieder auf taube Ohren zu stoßen.

Frage: Was wäre Ihr Ansatz?

Antwort: Man sollte mal die Frage diskutieren, wo die Trainerausbildung stattfindet. Warum muss das unbedingt unter dem Dach des DFB geschehen? Wer sind die Leute, die dort die Vorgaben erstellen über Ausbildungsinhalte, die anschließend flächendeckend in Form von Trainern in den Vereinen landen? Wieso bedienen sich Vereine eines externen Konzepts des DFB? Die Bundesligaclubs sind mittlerweile mittelständische Unternehmen mit mehreren Hundert Millionen Umsatz. Sie bilden ihre Spieler aus und kennen ihre Bedürfnisse am besten. Daher verstehe ich nicht, warum zum Beispiel Vereine nicht auch ihre Trainer selbst ausbilden dürfen.

Frage: Hat sich der DFB schon einmal nach Ihrer Meinung erkundigt? Sie haben 98 Länderspiele für Deutschland bestritten.

Antwort: Nein.

Frage: Ganz allgemein: Müsste der DFB stärker auf die Expertise erfahrener Ex-Profis setzen?

Antwort: Wenn wir über den Spitzenbereich sprechen, dann ist es hilfreich, dass an den entscheidenden Stellen Leute mitwirken, die genau wissen, wovon sie reden. Noch ein Vergleich: Warum bedient sich die Formel 1 bei der Konstruktion der Autos vor allem des Know-hows des Fahrers? Weil man zwar in der Theorie simulieren kann, wie der Wagen bei Tempo 300 in der Kurve liegt. Wie sich das aber auf der Straße wirklich anfühlt, das weiß nur derjenige, der am Steuer sitzt. Diese Erfahrung ist unbezahlbar.

Frage: Der FC Augsburg hat Jens Lehmann als Co-Trainer verpflichtet, der VfB Thomas Hitzlsperger zum Sportvorstand befördert, Borussia Dortmund Sebastian Kehl als Teammanager engagiert. Marcell Jansen ist beim Hamburger SV sogar Präsident. Sehen Sie ein Umdenken?

Antwort: In den Clubs sieht es so aus. Grundsätzlich freut es mich, wenn Spieler aus meiner Generation wichtige Posten besetzen. Das zeigt: Ein bisschen Fußballsachverstand kann nicht schaden.

Frage: Sie machen sich rar und sammeln Kunst. Wann wird man Sie wieder in verantwortlicher Rolle im Fußballgeschäft sehen?

Antwort: Reizen würde es mich durchaus. Sie wissen, wie das ist: Wenn man irgendwo richtig einsteigt, dann muss auch alles passen.

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Erstellt:
15. Februar 2019, 03:04 Uhr

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