„Murrhardt“ ist das rettende Zauberwort

In der Hochphase des Kalten Kriegs wird ein Kleinaspacher mit seiner Familie im polnischen Grenzgebiet zu Russland wegen Spionageverdachts verhört. Dann fällt ein Name – und höchst misstrauische Grenzer werden zu Freunden.

Drei Wochen lang war Murrhardt während der Fußball-WM 1974 die Heimat der polnischen Nationalelf. Die fühlte sich in der Sonne-Post bei Albert Bofinger (vorne mit Tochter Andrea) sichtlich wohl. Auch die Murrhardter hatten ihre Gäste rasch ins Herz geschlossen.

Drei Wochen lang war Murrhardt während der Fußball-WM 1974 die Heimat der polnischen Nationalelf. Die fühlte sich in der Sonne-Post bei Albert Bofinger (vorne mit Tochter Andrea) sichtlich wohl. Auch die Murrhardter hatten ihre Gäste rasch ins Herz geschlossen.

Von Uwe Flegel

Sport verbindet – und manchmal hilft er gar in bedrohlicher Situation. Das weiß Dieter Holz seit 48 Jahren. Wieder daran denken musste er, als er vor vier Tagen in unserer Zeitung den Artikel „Fußballer der Kategorie Weltstar zu Gast“ las. In dem ging es um den dreiwöchigen Aufenthalt der polnischen Fußballnationalmannschaft während der Weltmeisterschaft in Deutschland 1974 in der Murrhardter Sonne-Post. Dabei wurde dem späteren WM-Dritten eine Gastfreundschaft zuteil, die ihresgleichen suchte.

Der eine oder andere mag das für übertrieben halten. Dieter Holz, früher im Backnanger Volleyball als Spieler und Abteilungsleiter sowie später im Aspacher Jugendfußball engagiert, hat es erlebt. In heikler Lage erfuhr er, welch Eindruck die Murrhardter Herzlichkeit gegenüber dem Nationalteam in Polen hinterlassen hatte.

Inmitten des Kalten Kriegs auf Spurensuche im Land der Großeltern

Der nunmehr 77-Jährige war im späten Frühjahr 1976 mit seiner Frau Beate Holz und seinen Eltern in Masuren unterwegs. Dort im ehemaligen Ostpreußen war sein Vater Joachim Holz in Lyck, das mittlerweile Elk heißt, zur Welt gekommen. Nun begaben sich der einstige Leiter des Gesundheitsamts Backnang, sein Sohn und die Ehefrauen inmitten des Kalten Kriegs in Polen zwei Wochen lang auf eine Art Spurensuche. Eine, die einmal richtig unangenehm wurde und erst mit der Erwähnung der Stadt Murrhardt gegenüber polnischen Grenzpolizisten ein gutes Ende fand.

Als die Familie umdreht, ist die Grenzpolizei schon längst aktiv

Dieter Holz erzählt: „Wir waren in Richtung Osten an die Grenze zur damaligen Sowjetunion, heute zu Litauen, gefahren.“ Nur 15 Kilometer trennen die Kleinstadt mit rund 6000 Einwohnern vom Nachbarland. Der Kleinaspacher gesteht: „In Zeiten des Kalten Kriegs war dies aufregend, aber sicher auch etwas leichtsinnig. Als wir bereits in Sichtweite des Grenzübergangs waren, wurde es uns doch mulmig und wir kehrten um.“ Zu spät. Kurz darauf wurde das Auto von der polnischen Grenzpolizei angehalten und die Insassen zum Verhör nach Sejni gebracht. Dort war die Stimmung arg frostig. Die Deutschen wurden der Spionage verdächtigt, wie sie vom Dolmetscher erfuhren. Das Verhör dauerte bereits eine Stunde und die Familie fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut.

Die Herzlichkeit der Murrhardter ist zwei Jahre danach in Polen noch nicht vergessen

Bis die Frage nach dem Wohnort kam. Mit Backnang konnten die Grenzer wenig anfangen, da kam dem alten Sportsmann Dieter Holz der Gedanke, zu sagen: „Backnang, in der Nähe von Murrhardt.“ Es war das Zauberwort. Von einem Augenblick auf den anderen änderten sich Stimmung und Verhalten. „Die Grenzer waren urplötzlich freundlich, es ging nur noch über das Thema Fußball und vor allem Murrhardt“, berichtet Dieter Holz und fügt hinzu: „Selbst zwei Jahre nach der WM redeten die Polizisten begeistert über die Zeit ihrer Nationalmannschaft in Murrhardt.“ Immer wieder sei das Wort „Murrhardt“ gefallen und die Stimmung besser und besser geworden. Der 77-Jährige ist sich heute noch sicher: „Die herzliche Aufnahme und das erfolgreiche Abschneiden des Teams mit seinen Stars wie Kazimierz Deyna, Grzegorz Lato, Andrzej Szarmach, Jan Tomaszewski und all den anderen waren unsere Rettung. Am Ende wurden wir freundlichst verabschiedet. Von Bestrafung keine Spur mehr.“ Dabei, so der Aspacher, „war in Polen der Aufenthalt in der Nähe der Grenze zur UdSSR streng verboten, wie wir später erfahren haben“.

Zum Artikel

Erstellt:
25. Juni 2024, 18:30 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Rems-Murr-Sport

Murrhardter Talente haben großes Vertrauen in die eigene Stärke

Fußball-Europameisterschaft Die C-Jugend-Fußballer der SGM Murrhardt haben keinen Zweifel am deutschen Weiterkommen im Achtelfinale gegen Dänemark. Auch für die eigene Mini-EM im Trauzenbachstadion in knapp einer Woche ist der Nachwuchs guten Mutes.

Rems-Murr-Sport

TSG Backnang: Kurz nach dem Start gleich zwei Kracher

Trainingsauftakt am Mittwochabend, erstes Testspiel gegen den Drittligisten VfB Stuttgart II am Freitag, das zweite gegen den Regionalligisten Stuttgarter Kickers am Sonntag – der Beginn der Saisonvorbereitung beim Fußball-Oberligisten aus den Etzwiesen ist ambitioniert.

Rems-Murr-Sport

Kunstradfahren: Im Weissacher Vorzeigesport rollt’s wieder

Der Radsportverein scheint seine Talsohle durchschritten zu haben. Dort, wo einst Weltklasse im Kunstradsport trainierte, ist derzeit aber vor allem Graswurzelarbeit angesagt. Die 16-köpfige Trainingsgruppe um Kreismeisterin Bianca Brandner besteht vor allem aus Einsteigern.