Ohne Ehrgeiz und Disziplin geht nichts
Serie Talente suchen, finden, fördern (Folge 4) Die Olympiastarter Michaela Semsch, Katharina Menz und Sebastian Krimmer sind Vorbilder für den Nachwuchs. Das Trio weiß aber auch, dass sich dieser Traum nur mit harter Arbeit erfüllt.
Von Steffen Grün
Erst 112 Jahre nach den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, die 1896 in Athen ausgetragen wurden, kam es zur Premiere mit Backnanger Beteiligung. 2008 reiste Michaela Semsch, die damals noch den Mädchennamen Baschin trug, nach Peking. Sie blieb nicht die einzige TSG-Judoka bei dem weltgrößten Sportereignis, im vergangenen Jahr mischte Katharina Menz in Tokio mit. Dritter im Bunde von Backnangs Olympiafraktion ist Sebastian Krimmer, der in London 2012 die Fahne der TSG-Turner hochhielt. Für dieses Trio erfüllte sich mit dem Start im Zeichen der Ringe ein Traum, den viele Mädchen und Jungen träumen. Sie wollen in die Fußstapfen von Semsch, Menz oder Krimmer treten, die in der vierten Folge unserer Serie einen Einblick gewähren, was sie so alles tun und lassen mussten, um ihr großes Ziel auch tatsächlich zu erreichen.
Michaela Semsch: Ohne die Freundin, die sie mit sieben Jahren zu einem Schnuppertraining mitschleppte, wäre aus ihr vielleicht nie eine Olympiastarterin geworden. Eigentlich spielte sie Tischtennis, aber „das hat mich nicht genug gefordert“, erzählt die Kleinaspacherin, die mit ihrem Mann sowie dem 19 Monate alten Sohn mittlerweile in Regensburg wohnt und als Grundschullehrerin arbeitet. „Judo war genau das Richtige.“ Bis sie 14 Jahre alt war, liefen die beiden Sportarten parallel, dann legte Michaela Semsch den Schläger aber zur Seite.
Aus nur zwei Einheiten pro Woche und damit einem Pensum, über das die heutigen Toptalente müde lächeln, wurden – etwa ab der U 17 – mindestens drei. Dazu kam zweimal im Monat das Fördertraining am Landesstützpunkt in Sindelfingen. Erst so spät in die Vollen zu gehen, „wäre heute wohl nicht mehr möglich“, glaubt die 37-Jährige, doch vor gut zwei Dekaden herrschten auch noch andere Rahmenbedingungen. Spezielle Schulen für Sportler, die Freiraum für das Training und die Wettkämpfe lassen, waren noch keine Selbstverständlichkeit. Semsch ging aufs Backnanger Max-Born-Gymnasium, bei Freistellungen für Turniere war sie auf die Kulanz des Rektors angewiesen. Vor dem Abitur trat sie im Judo sogar kürzer.
Als sie mit dem Lehramtsstudium angefangen hatte, wurde ihr die Pendelei zu viel, sie zog nach Sindelfingen um. Es war das Signal, im Sport nochmals ordentlich draufzupacken. Zweimal Training am Tag, mindestens fünfmal in der Woche, plus Turniere – und das ohne die komfortable Lage von Sportsoldatinnen und Bundespolizistinnen. Als es 2008 mit dem Olympiaticket klappte „und ich zwei Urlaubssemester beantragt habe, war es ein Riesenzinnober“. Sie wurden bewilligt, für die Strapazen der Vorbereitung wurde Semsch immerhin mit einem Sieg und Platz neun in Peking belohnt. Um aufzuhören, war ihr das aber zu wenig. Sie wollte auch 2012 in London dabei sein, verschob den Start ins Berufsleben und sattelte ein Studium der Sportwissenschaften drauf. Erst als sie die Qualifikation verpasste, war Schluss. „Ich bereue es nicht“, sagt die frühere TSG-Judoka über den großen Zeitaufwand und den Verzicht auf manchen Freizeitspaß. „Man kann es nicht halb gar machen. Ehrgeiz und Disziplin sind zwingend nötig.“ Und die Familie muss mitziehen.
Katharina Menz: Derselbe Verein, dieselbe Gewichtsklasse (bis 48 Kilogramm) – ein besseres Vorbild als die gut sechs Jahre ältere Michaela Semsch hätte es für Backnangs aktuelle Vorzeigejudoka kaum geben können. „Als sie sich 2008 für die Olympischen Spiele qualifizierte, hat mich das geprägt“, erinnert sich Katharina Menz. „Ich wollte es auch schaffen.“ Gesagt, getan. Im vergangenen Jahr war es in Tokio so weit, aber der Weg dorthin sah etwas anders aus.
Bei ihr gab es bereits von klein auf einen familiären Bezug zum Judo, sie schaute dem älteren Bruder ab und an beim Training zu. Als sie das Mindestalter erreicht hatte, zog es sie selbst auf die Matte. „Es hat mir Spaß gemacht und als ich mit Wettkämpfen anfangen durfte, war ich schnell vorne dabei“, erzählt Menz. Früher als es bei Semsch der Fall war, schraubte sie das Pensum nach oben, schon während der Zeit auf der Max-Eyth-Realschule trainierte sie fast täglich. Montags sogar zweimal: Direkt nach dem Gong ging es ins TSG-Dojo und sobald die Hausaufgaben erledigt waren, schob sie die zweite Einheit hinterher. Als die Waldremserin die Mittlere Reife in der Tasche hatte, zog es sie fürs Abitur trotzdem nach Stuttgart. Von 2006 bis 2009 besuchte Menz die Cotta-Schule, eine „Eliteschule des Sports“, die auf die speziellen Belange der Athleten eingestellt ist. Das erlaubte zusätzlich zum Training in Backnang (Montag, Mittwoch, Freitag) und am Olympiastützpunkt in Sindelfingen (Dienstag, Donnerstag) zwei Vormittagseinheiten pro Woche in Esslingen und Sindelfingen. Freistellungen für Wettkämpfe waren weitaus leichter als an einer normalen Schule zu kriegen, bei Rückständen gab es zudem eine spezielle Nachhilfe.
Weil auch alle Mitschüler ihr Leben auf den Sport ausgerichtet hatten, stieß es auf Verständnis, wenn eine Party ohne Menz stattfand. „Wir waren ab und zu auch mal weg, so ist es nicht“, sagt sie und lacht, aber eben nicht so oft. „Mir hat der Sport viel gegeben, deshalb hat mir nichts gefehlt.“ Ihr Rat für Talente, die auch zu Olympischen Spielen wollen: „Wenn es geht, würde ich auf jeden Fall eine spezielle Sportschule besuchen, das macht das Leben leichter.“ Und danach eine Uni, die den Sport unterstützt. Menz studierte Elektrotechnik und Mechatronik an der FH in Esslingen und streckte vor allem den Master. Wegen der von 2020 auf 2021 verschobenen Olympischen Spiele in Tokio schob sie insgesamt vier Urlaubssemester ein. Bei ihren Bewerbungen war das kein Nachteil, „der Sport ist eine gute Begründung“. Die Firma, bei der sie eine Trainee-Stelle mit einer 20-Stunden-Woche antritt, hat sich bewusst für eine Spitzensportlerin entschieden, die 2024 in Paris ihre zweiten Olympischen Spiele anpeilt und erst danach auf höchstem Niveau aufhört.
Sebastian Krimmer: Natürlich gebe es auch bei ihm mal Tage, an denen er „keinen Bock mehr hat, vor allem wenn es mal nicht so klappt“, verriet der TSG-Turner, der seine Karriere mittlerweile beendet hat, dieser Zeitung im Januar 2006. Sebastian Krimmer war erst 15, galt jedoch bereits als eines der größten deutschen Talente. Eines, das ein klares Ziel im Auge hatte: „Olympia 2012 in London.“ Es sollte der Lohn für die viele harte Arbeit sein, die schon in jungen Jahren hinter ihm lag. „Jetzt mache ich es schon so lange, habe schon so viel investiert.“ In der Tat, wie ein Blick in seinen damaligen Trainingsplan erahnen lässt: Acht Einheiten pro Woche, sechs am Nachmittag und zwei am frühen Morgen. Beine hochlegen allenfalls am Sonntag, aber nur, wenn kein Wettkampf oder Lehrgang anstand.
Um das schaffen zu können, war Krimmer bereits im Sommer 2004 an die Linden-Realschule in Untertürkheim gewechselt, auch das eine „Eliteschule des Sports“. Oftmals klingelte schon um 5.30 Uhr der Wecker, um rechtzeitig in Stuttgart zu sein, zurück in Backnang war der Schüler gegen 20 Uhr. Auf 25 bis 30 Stunden pro Woche summierte sich das Training Ende 2007 bereits, und es wurde in den Jahren auf allerhöchstem Niveau nicht weniger. Die Fachhochschulreife erwarb Krimmer an der Cotta-Schule und als klar war, dass er tatsächlich den Sprung ins deutsche Nationalteam schaffen würde, verpflichtete er sich bei der Bundeswehr. „Das ist eine gewisse finanzielle Absicherung und hat auch sonst einige Vorteile“, erklärt der Backnanger, warum er elf Jahre als Sportsoldat diente. Er konnte sich in Ruhe auf die Karriere als Turner konzentrieren, die einige Höhepunkte hatte – allen voran die Olympischen Spiele 2012.
Vor gut drei Jahren hörte Krimmer dann auf und begann nach einer gewissen Auszeit eine Lehre als Bankkaufmann, die der 31-Jährige mittlerweile abgeschlossen hat. Er steckt nun mitten im Berufsleben, blickt aber mit großer Zufriedenheit und voller Stolz auf seine Zeit als Sportler zurück. Daran ändern der hohe Zeitaufwand, der viele Verzicht und die schweren Verletzungen (gerissene Bizepssehne, gebrochene Mittelhand, kaputte Schulter) nichts. „Für mich hat sich das alles gelohnt“, betont Sebastian Krimmer. „Ich habe meine Ziele erreicht, meine Träume haben sich erfüllt. Es war viel Druck und es gab Höhen und Tiefen, aber ich würde es genauso wieder machen.“
Läuft alles nach Plan, könnten bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris sogar zwei TSG-Athleten mitmischen. Neben der Judoka Katharina Menz, die ihr zweites Ticket anpeilt, will auch Turnerin Emelie Petz dabei sein. Bei der 18-Jährigen fehlte schon 2021 nicht viel. Sie war als Ersatzturnerin in Tokio vor Ort, als sie sich einen Achillessehnenriss zuzog und noch vor der Eröffnungsfeier wieder abreisen musste. Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass in drei Jahren noch weitere Backnanger hoffen dürfen.
In der Serie Talente suchen, finden, fördern berichten wir, was es braucht, um es vom kleinen zum großen Sportler zu bringen. Unter anderem geht’s um Sichtung und Training in Vereinen und Verbänden sowie vor allem um den langen Weg nach ganz oben.Michaela Semsch Bronze bei der U-20-EM 2003; deutsche Einzelmeisterin 2004 bis 2006 und 2009; EM-Bronze 2006 und 2009; Weltcupsiege in Minsk 2007 und Rom 2008; Neunte bei den Olympischen Spielen 2008, BKZ-Sportlerin des Jahres 2002 bis 2009.
Katharina Menz Silber bei der Junioren-WM 2009; deutsche Einzelmeisterin 2014 bis 2019; deutsche Mannschaftsmeisterin mit der TSG Backnang 2017, 2018, 2021; Grand-Slam- und Grand-Prix-Podestplätze; EM-Bronze 2020; Olympiabronze mit Deutschlands Mixed-Team 2021 (ohne Einsatz).
Sebastian Krimmer Mit dem deutschen Team: Platz 7 bei den Olympischen Spielen 2012; Platz 5 bei den Europaspielen 2015; WM-Bronze 2010; WM-Plätze 6 und 9 (2011, 2015); EM-Platz 4 (2014). Einzel: EM-Plätze 5 (2011, Pauschenpferd), 8 (2012, Barren); deutscher Vizemeister Pauschenpferd 2010, 2012 und Barren 2011; BKZ-Sportler des Jahres 2005 bis 2007, 2009 bis 2016.