Ein ehrlicher Coming-of-Age-Roman von Ilona Hartmann
Interview Die gebürtige Backnangerin Ilona Hartmann hat durch ihre pointierten Twitter-Beiträge zunächst in der Netzwelt Bekanntheit erlangt, ist mittlerweile aber auch Autorin, Podcasterin und moderiert eine Radiosendung. Nun hat sie ihren zweiten Roman veröffentlicht.
Frau Hartmann, Ihr neuer Roman „Klarkommen“ ist im Februar erschienen. Wie ist die bisherige Resonanz?
Sehr gut! Ich bekomme viele Nachrichten von erleichterten Teenagern, denen „Klarkommen“ ein wenig den Druck nimmt und von Erwachsenen, die sich ein wenig mit ihrer Vergangenheit versöhnt haben. Das ist beides sehr schön.
Das Buch handelt von der Angst junger Menschen, die aufregende Seite des Lebens zu versäumen. Haben Sie Ihre eigene „Fear Of Missing Out“ im Griff?
Das ist sehr tagesformabhängig. Also heute Abend zum Beispiel habe ich zwei Einladungen. Das ist schon mal das Wichtigste. Die Veranstaltungen sind aber relativ weit voneinander weg, entweder muss ich mich entscheiden, oder einmal 45 Minuten Bahn fahren. Wer kommt noch? Wo geht man zuerst hin? Was machen die anderen aus meinem Freundeskreis? Die Chancen sind also sehr hoch, dass ich zu Hause bleibe (Anm. d. Red.: Sie ist zu Hause geblieben).
Anstelle des erhofften Abenteuers findet die aus einer Kleinstadt stammende Protagonistin auch in der Großstadt vor allem Alltag, Langeweile und verpasste Gelegenheiten. Haben Sie Spaß daran, mit Erwartungen zu brechen?
Es ging mir eher darum, Lücken zu füllen. Es gibt so viele wahnsinnig tolle Coming-of-Age-Romane, in denen unrealistisch viel passiert, warum gibt es auf der anderen Seite fast keine mit ehrlicher, flacher Erlebniskurve? Das hat mich irgendwie genervt. Und wie das dann eben so ist: Am Ende muss man es halt selber machen.
Laut der Icherzählerin gibt es nur
36 Handlungen, auf die letztlich alle Geschichten der Welt zurückgehen. Welche davon erzählt „Klarkommen“?
Das geht zurück auf die Theorie „Die 36 dramatischen Situationen“ nach Georges Polti von 1895. Am ehesten passt dazu „Mutiges Unternehmen“, also die drei Hauptfiguren, in diesem Fall Mounia, Leon und die Icherzählerin, gegen ein Hindernis – die große Stadt, ihre eigenen Erwartungen oder einfach die Realität. Es ist wirklich beeindruckend, wie viel modernes Hollywood in diesem 129 Jahre alten Konzept steckt.
Land und Stadt sind in der Literatur oft gegensätzliche Lebensentwürfe. Ihre Protagonistin kommt mit beidem nicht so wirklich zurecht. Ist das auch eine Art von Versöhnung?
Das beschriebene Hadern der Protagonistin ist, denke ich, eine realistische Reaktion auf Veränderung – die alten Schuhe passen nicht mehr und die neuen sind noch nicht eingelaufen. Diese unbequemen Übergangsphasen würde man ja oft allzu gern überspringen, mir war es deshalb wichtig, sie gerade deswegen detailliert auszuerzählen. Versöhnung kommt dann, wenn man feststellt: Egal wo ich wohne, die Probleme sind dieselben. Ist dann Geschmackssache, ob man sie mit Land- oder Stadtluft um die Nase besser lösen kann.
Die Flucht vor der Ereignislosigkeit in der Kleinstadt bildet den Ausgangspunkt des Romans. Was hat Sie nach der Schulzeit aus Backnang vertrieben?
Vertrieben ist ein starkes Wort. Es war eher die Anziehungskraft anderer Städte einfach größer. Und Ereignislosigkeit ist ja nur dann attraktiv, wenn sie selbst gewählt ist – ich bin einfach zufällig genau da auf die Welt gekommen.
Hat Ihnen das Aufwachsen in Backnang etwas für Ihr literarisches Schaffen mitgegeben?
Ich würde der Stadt als Lebensort an dieser Stelle wirklich äußerst gerne ein großes Kompliment machen, befürchte aber, es hat eher an den Menschen gelegen, die mich schon zu Schulzeiten gesehen und gefördert haben in meinem Schreiben. Solche Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter sind, glaube ich, sehr wichtig, besonders für junge Menschen, die nicht sowieso schon aus einem künstlerischen Umfeld kommen.
Laut Ihrer Vita sind Sie „bei Stuttgart“ geboren. Ist eine Backnanger Abstammung in Literatenkreisen ein Stigma?
Nein, aber zum einen sagt der Name den wenigsten Leuten außerhalb Baden-Württembergs etwas und zum anderen bin ich nach 15 Jahren ein wenig die Witze leid, die dann einsetzen, wenn man es zum dritten Mal buchstabiert hat. „Bagdad? Wird da viel gebacken? Ist das in Thailand?“ Die Leserinnen und Leser dieser Zeitung werden es auswendig kennen.
Bekanntheit erlangten Sie zunächst in der Netzwelt, mittlerweile schreiben Sie auch im guten alten Medium Buch. Welchen Reiz übt die Form des Romans auf Sie aus?
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Ich mag die große, freie Fläche und die Möglichkeit, längere Erzählbögen aufbauen zu können. Zwar schreibe ich gerne kompakt, auch in Buchform, aber manche Szenen sind zu komplex für eine Zeichenbegrenzung. Außerdem habe ich durchaus den Eindruck, dass in Buchform aufgenommene Geschichten irgendwie länger oder tiefer im Kopf bleiben als digitale Inhalte. Vielleicht einfach, weil unsere Gehirne noch nicht ganz in die Gegenwart evolutioniert sind. Das muss ich ausnutzen, solange es noch geht.
Ihr Debüt „Land in Sicht“ bezeichnen Sie als ihren „bislang längsten Tweet“. War das Twittern eine gute Schule für das literarische Schreiben?
Eher umgekehrt, Twitter war zum ersten Mal eine perfekte Plattform für meine immer schon vorhandene Tendenz zu dichten, kurzen Texten. In der Schule habe ich nie die längsten Aufsätze geschrieben, in der Uni mit vorgegebenen Seitenzahlen der Seminararbeiten gekämpft und auch meine beiden Bücher sind mit knapp 200 Seiten eher schmal. Es war aber insofern eine gute Praxis, als dass ich durch Twitter einfach zwölf Jahre lang jeden Tag geschrieben und mich mit Sprache beschäftigt habe – vielleicht nur durch einzelne Sätze, aber immerhin.
Sie haben mehr als 100000 Follower in sozialen Netzwerken. Ist so viel Reichweite manchmal auch beängstigend?
Gerade im Bezug auf Fake News und anderweitig schwer zu prüfende Inhalte muss man besonders aufpassen, keine Fehlinformationen zu teilen. Aber ich denke andererseits, die Vorteile eines so großen Netzwerks, weil das ist es im Grunde, überwiegen dann doch und ich verstehe zwar immer noch nicht ganz, wo diese ganzen Menschen herkommen, freue mich aber sehr drüber.
Sie moderieren eine Radiosendung, haben an einem Podcast mitgewirkt und sind Autorin. In welchem Format fühlen Sie sich am wohlsten?
Als Kind habe ich eine Zeit lang auf die Frage nach meinem Lieblingsessen gesagt: „Buffet“. Wahrscheinlich hatte mich da gerade eine Hochzeit oder andere Feierlichkeit beeindruckt zurückgelassen, aber eigentlich ist der Kern immer noch wahr: Ich mag die Auswahl und die Abwechslung und bin sehr dankbar dafür, so viele Optionen zu haben.
Das Interview führte Kai Wieland.
Werdegang Ilona Hartmann wurde 1990 in Backnang geboren und zog nach dem Abitur am Max-Born-Gymnasium zunächst nach Leipzig und dann nach Berlin. Sie war unter anderem Kolumnistin für das Zeit-Magazin, weitere Texte von ihr finden sich auf Instagram oder Twitter, wo ihr inzwischen insgesamt mehr als 100000 Menschen folgen. Zusammen mit Christoph Amend, Editorial Director des Zeit-Magazins, hat sie 99 Folgen lang den Podcast „Und was machst Du am Wochenende?“ moderiert. Ilona Hartmann ist außerdem Teil der Band „Njelk“ und moderiert im Wechsel mit Sebastian Hotz, besser bekannt als El Hotzo, die Sendung „Theoretisch Cool“ auf Radio Fritz.
Bücher Hartmanns Debütroman „Land in Sicht“ ist 2020 erschienen (Taschenbuchausgabe 160 Seiten, 11 Euro, Aufbau-Verlag). Im Februar dieses Jahres folgte der Roman „Klarkommen“ (192 Seiten, 22 Euro, Ullstein-Verlag). Er handelt von Mounia, Leon und der namenlosen Icherzählerin, welche in einer nicht näher benannten Kleinstadt aufwachsen und für das Studium voller Hoffnung in eine Großstadt ziehen. Anstelle von Abenteuer und einem Leben am Puls der Zeit erwarten sie aber auch
dort vor allem der Alltag und verpasste Gelegenheiten.