Möblierte Psychogramme im Backnanger Helferhaus

In der Ausstellung „Hausbesuche“ im Helferhaus werden ab Sonntag Werke der Schorndorfer Künstlerin Renate Busse gezeigt. Die Zeichnungen geben einen faszinierenden Einblick in das Wohnen der Menschen zwischen Ordnung, Chaos, gehäkelten Vorhängen und Röhrenfernsehern.

Renate Busse hat Freude an der genauen Beobachtung und der zeichnerischen Umsetzung des Gesehenen. Fotos: Dietmar van der Linden

© Dietmar van der Linden

Renate Busse hat Freude an der genauen Beobachtung und der zeichnerischen Umsetzung des Gesehenen. Fotos: Dietmar van der Linden

Von Kai Wieland

Backnang. „Entschuldigung, darf ich Ihre Wohnung zeichnen?“ So oder so ähnlich ging Renate Busse auf Freunde, Bekannte oder auch mal Wildfremde zu, die Zeichenmappe unterm Arm und den Rapidographen – einen Tuschezeichner – im Anschlag. „Am besten war es, wenn ich möglichst unangemeldet vorbeikam, dann blieb keine Zeit zum Aufräumen“, erzählt die 82-Jährige schmunzelnd. So habe es schließlich umso mehr zu zeichnen gegeben. Das Ergebnis dieser Arbeit ist ab Sonntag in der Ausstellung „Hausbesuche“ im Backnanger Helferhaus zu sehen.

Essensreste, Spielzeugstapel, Papierberge... viele Menschen haben der Künstlerin, die in Schorndorf lebt und dort auch ihr Atelier hat, intime und ungeschönte Einblicke in ihre vier Wände gewährt. Genauso häufig zeigen die Bilder aber ordentliche, teilweise makellos erscheinenden Wohnzimmer mit schweren Polstermöbeln, verschlungenen Tapetenmustern, gehäkelten Vorhängen und jeder Menge Nippes. Klingt aus der Zeit gefallen? Eben darin liegt ein nicht unwesentlicher Teil des Reizes, findet Busse. „Man sieht da Zeitgeschichte, denn es ist ja wahnsinnig, wie sich alles verändert hat“, erklärt sie. Ihr erster „Hausbesuch“ fand nämlich im Jahr 1983 statt, die weiteren Werke entstanden, abgesehen von einigen seltenen Nachzüglern – der bislang letzte im Jahr 2022 –, innerhalb der anschließenden zwei bis drei Jahre. „Wenn man sich etwa die Küchen ansieht, die damals bloß der Ort zum Kochen waren, keine gestylten Landhausküchen wie heute, oder die Spielzeuge und technischen Geräte.“

Die Räume erzählen vom Wesen der darin lebenden Menschen

Entrée, Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer: Die Ausstellung im Helferhaus ist nicht chronologisch geordnet, sondern orientiert sich an den unterschiedlichen Bereichen einer Wohnung, welche Renate Busse im Rahmen ihres Schaffens angesammelt und zu einem Mosaik der Wohn- und Daseinsformen aufbereitet hat.

Aber wie kam es überhaupt zu der ungewöhnlichen Herangehensweise? Eigentlich eher durch Zufall, antwortet die Malerin. „Ich war damals zu Besuch bei einem Redakteur und habe dort die Kinderküche entdeckt, also das Motiv, das heute auf dem Ausstellungsplakat zu sehen ist.“ Bis dahin habe sie Architektur gezeichnet, aber in jenem Moment keimte ihr Interesse, sich das Innenleben von Gebäuden und Räumen vorzunehmen. „Niemand zeichnet oder fotografiert ja seine eigene Wohnung, jedenfalls nicht damals, es gab ja noch keine Smartphones“, sagt Busse. „Ich fand es interessant, das ganz normale Zeug festzuhalten.“ Wichtig war ihr dabei, ein authentisches Bild der Wohnung zu zeichnen. „Arrangieren war natürlich strengstens verboten.“ Entscheidend sei hingegen die Auswahl des Bildausschnitts. „Wo im Zimmer fängt das Bild an, wo hört es auf?“, laute die Frage. Die Antwort darauf in jedem Bild aufs Neue zu finden ist nur einer der Reize bei der Betrachtung.

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Selten kommen bei den Zeichnungen der Schorndorferin Farben zum Einsatz, so wie hier beim Bild „Sahras Sachen – Haus in der Eiffel“.

© Dietmar van der Linden

Selten kommen bei den Zeichnungen der Schorndorferin Farben zum Einsatz, so wie hier beim Bild „Sahras Sachen – Haus in der Eiffel“.

Einmal angefangen, besuchte sie zunächst Menschen in ihrer Schorndorfer Nachbarschaft, später führten sie ihre vielen Reisen auch in Städte wie Tübingen, Stuttgart, Ladenburg, Kassel oder Paderborn bis hinauf in den Norden nach Bremen. Dabei wählte sie die Gebäude nicht gezielt aus, etwa aufgrund eines interessanten Erscheinungsbilds, sondern sie nahm sich bietende Gelegenheiten grundsätzlich gerne wahr. „In jeder Wohnung habe ich etwas Interessantes gefunden, so wie auch jeder Mensch etwas Interessantes hat“, erklärt die Künstlerin. „So ein Bild ist wie ein Psychogramm. Die Menschen sind darauf ja nicht zu sehen, aber trotzdem kann man sie sich vorstellen.“

Tatsächlich fällt es nicht schwer, sich zum Bild „Ablage“, welches das WG-Zimmer eines Studenten samt Hängepflanze und Gitarre zeigt, den zugehörigen Zeitgenossen auszumalen. „Bei den Studenten ist eigentlich immer eine Gitarre im Bild“, bemerkt Renate Busse kichernd. Man merkt ihr die Liebe zu ihren Werken an, mit denen sie oftmals noch Anekdoten und die zugehörigen Menschen verbindet. „Leo habe ich mit meiner Mappe in einem Café in Tübingen getroffen und er hat mich gefragt, was ich zeichne. Ich erklärte es ihm und er meinte, ich könne gerne auch seine Wohnung zeichnen.“ Gesagt, getan: So sammelte Busse ihre Motive, einmal habe sie gar einfach an einer Tür geklingelt, weil dort gute Musik aus dem Inneren zu hören gewesen sei. Und siehe da: Auch Paul und Elke, die Bewohner des Hauses, erklärten sich bereit, ihre Küche zeichnen zu lassen.

Das Finden von Techniken und Strukturen für die Umsetzung ist reizvoll

In einem so langen Künstlerleben wie dem ihren komme man mit vielem in Berührung, verrät Renate Busse. Zwischen 1959 und 1962 studierte sie an der Akademie der bildenden Künste Malerei beim in Backnang geborenen Manfred Henninger, dessen Werke in starkem Kontrast zu den fast ausschließlich schwarz-weiß gehaltenen Zeichnungen von Busse durch Farbflächen mit oftmals unklaren Konturen geprägt sind. Das farbliche Ausarbeiten ihrer Werke habe sie selbst nie erwogen, sagt die Künstlerin. „Durch das Schwarz-Weiß achtet man auf die Details und die Linien. Sobald Farben dazukommen, spielen beim Betrachten ganz andere Dinge eine Rolle.“

Als Abkehr von ihrem geschätzten Lehrer ist dies allerdings keineswegs zu verstehen. „Ölfarbe ist mein Metier“, sagt die Schorndorferin bestimmt, in deren Gesamtwerk die Hausbesuche schließlich nur einen Ausschnitt bilden. „Nach dem Studium mit einem so prägenden Professor hatte ich damals den Wunsch, einen eigenen Stil zu entwickeln.“ Am Zeichnen habe sie das genaue Beobachten gereizt sowie die Disziplin und der Spaß daran, sich anzustrengen. „Mich interessierten die Techniken und Strukturen, wie man etwas darstellen kann“, erklärt sie. „Die Details in einer Couchlandschaft oder in einem Vorhang sind ja wahnwitzig zu zeichnen.“ In einer späteren Serie, in der sie Autos zeichnete, habe sie diesen Drang zum exakten Arbeiten auf die Spitze getrieben, ihn damit aber auch ausreichend ausgelebt, sagt die Künstlerin. „Heute zeichne ich wieder lockerer. Und ich mische auch die Malerei und grafische Elemente.“

Ausstellung und Termine Die Ausstellung dauert von 21. Januar bis 18. Februar, die Vernissage findet am kommenden Sonntag um 11.30 Uhr statt. Die Einführung übernimmt Annegret Weimer. Die Finissage mit Künstlergespräch beginnt am 18. Februar um 16 Uhr. Das Helferhaus ist von Dienstag bis Freitag von 16 bis 19 Uhr, samstags von 11 bis 18 Uhr und sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt zur Ausstellung und zu den Veranstaltungen ist frei. Begleitend zur Ausstellung gibt es einen Katalog.

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Erstellt:
19. Januar 2024, 06:00 Uhr

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