Aktuell fehlen fast 290 Unterbringungsplätze für Geflüchtete in Backnang

Backnangs Erster Bürgermeister Siegfried Janocha bezeichnet die Lage zur Flüchtlingsunterbringung als „äußerst kritisch“. Oberbürgermeister Maximilian Friedrich glaubt, die Stadt ist zunehmend an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angekommen.

Das Haus Hohenheimer Straße 40 ist eine von acht größeren Anschlussunterbringungen. Dort haben 55 Menschen Platz. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Das Haus Hohenheimer Straße 40 ist eine von acht größeren Anschlussunterbringungen. Dort haben 55 Menschen Platz. Foto: Alexander Becher

Von Matthias Nothstein

Backnang. Am Abend vor dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine hat die Stadtverwaltung im Gemeinderat mit deutlichen Worten Stellung zur Flüchtlingssituation bezogen. Erster Bürgermeister Siegfried Janocha bezeichnete die Lage zur Flüchtlingsunterbringung als „äußerst kritisch“. Eine Besserung oder gar Kehrtwende sei angesichts der Vielzahl von Konflikten kaum zu erwarten. Deshalb befürchtet Janocha, „dass wir weitere Kraftanstrengungen benötigen, um der Flüchtlingswelle Herr zu werden“. Aktuell fehlen fast 290 Heimplätze in der Stadt (siehe Infobox).

Der Krieg in Europa bringt nicht nur Tod, Vertreibung und Zerstörung vor Ort mit sich, die Folgen sind laut Oberbürgermeister Maximilian Friedrich nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Flüchtlinge auch in Backnang zu spüren. Friedrich spricht von immensen Herausforderungen. Alle Flüchtlinge sollen adäquat untergebracht und betreut werden. Friedrich: „Dabei kommen wir zunehmend an die Grenzen unserer Möglichkeiten.“ Die Oberbürgermeister aus der Region Stuttgart hätten dies in einem gemeinsamen Statement vor dem Flüchtlingsgipfel des Bundes klar benannt: „Die schnell wachsende und hohe Zahl von Geflüchteten betrachten wir mit großer Sorge. In Zeiten von ohnehin schon bestehender Wohnungsnot, von fehlenden Kitaplätzen, von Personalmangel in Kindertagesstätten, Schulen, Arztpraxen, Krankenhäusern und öffentlichen Verwaltungen sind wir auch in vielen anderen Bereichen an der Grenze des Machbaren angelangt.“

Die einheimischen Obdachlosen dürfen nicht vergessen werden

Der Ernst der Lage war bei allen Stadträten angekommen. So betonte Heinz Franke (SPD) den humanitären Auftrag und die Verantwortung, den die Stadt habe, ungeachtet des großen Unterbringungsdrucks. Er erklärte: „Wir können der Verwaltung nur Mut machen, auf diesem Weg weiterzumachen, zumindest von unserer Fraktion haben sie die volle Unterstützung.“ CDU-Fraktionschefin Ute Ulfert stimmte Franke nicht nur in diesem Bereich zu, sondern auch bei Frankes Appell, über all den Flüchtlingen nicht die einheimischen Obdachlosen aus den Augen zu verlieren. Ulfert wollte ferner wissen, wie all die Flüchtlinge untergebracht werden sollten, für die es dieses Jahr schon keine Plätze mehr gibt. Und noch weiter blickte Rolf Hettich (CDU) in die Zukunft: „Es fehlen ja nicht nur dieses Jahr 288 Plätze, sondern nächstes Jahr kommen nochmals 400 oder 500 Flüchtlinge dazu. Wenn das so weitergeht, das schaffen wir nicht. Wir sind als Kommune nicht fähig, das zu leisten. Bund und Land sind gefordert, Maßnahmen zu ergreifen.“ An die Adresse von OB Friedrich gerichtet sagte Hettich: „Ich kann Sie nur ermuntern: Schreiben Sie noch einen weiteren Brief.“

Ambivalentes Verhalten der Menschen

Trotz des ernsten Themas schaffte es Willy Härtner (Grüne), die Versammlung zu erheitern, wenn auch unfreiwillig. Er fragte nach, warum die Stadt nicht in den Umlandgemeinden Wohnraum anmieten würde. Janocha entfuhr ein „um Himmels willen!“, und Friedrich sagte, dies wäre „ein großes Foulspiel innerhalb der kommunalen Familie“, da alle diese Sorgen hätten.

Die AfD-Fraktion wollte per Antrag wissen, wie viele Flüchtlinge in der Stadt eine Duldung hätten und somit ausreisepflichtig wären, wie viele vollständig abgelehnt seien und trotzdem nicht abgeschoben würden und wie viele straffällig geworden seien, nach Straftaten aufgeschlüsselt. Gisela Blumer, die Leiterin des Rechts- und Ordnungsamts, versprach einige Zahlen zu liefern, betonte aber, dass sie zu den Straftaten nichts sagen könne, dies sei Sache der Polizei. Und Friedrich stellte klar, dass es oft nicht möglich sei, Flüchtlinge abzuschieben. Etwa dann nicht, wenn es sich um staatenlose Menschen handele oder und um Staaten, in denen Krieg herrscht. Siglinde Lohrmann (SPD) nahm dies zum Anlass, an alle zu appellieren, die Verwaltung zu entlasten und nicht mit unsinnigen Aufgaben zu bombardieren. Sie verwies ferner auf das ambivalente Verhalten der Menschen: „Uns tun die Menschen im Krieg immer leid. Aber sobald sie bei uns aufgeschlagen sind, werden sie uns lästig und wir wollen sie wieder loswerden.“ Sie appellierte: „Das sind alles Menschen, die aus schwierigen Situationen zu uns kommen, da müssen wir ihnen nicht noch Steine in den Weg legen.“ Lohrmann gab zu bedenken, dass es in England, Italien und Frankreich deshalb weniger Flüchtlinge gebe, weil es in diesen Ländern einen Rechtsruck gegeben habe, „das brauchen wir in Deutschland ganz bestimmt nicht“. AfD-Rat Steffen Siggi Degler nahm dies als Anlass für einen Konter: „Die Flüchtlinge sind nicht in jenen Ländern, weil es dort keine Anreize wie in Deutschland gibt.“ Lutz-Dietrich Schweizer (CIB) erinnerte daran, dass sich vor einem Jahr alle einig waren, dass der Beginn des Kriegs bedeutet, „dass wir uns auch einschränken müssen“. Jetzt, wo es ernst wird, werde geschimpft. Schweizer: „Natürlich geht es darum, dass man die Lasten des Krieges gerecht verteilt, sodass sie für die einzelnen Menschen tragbar bleiben. Aber nicht spürbar, das werden wir nicht hinbekommen.“

Kommentar
Es ist wichtig, zusammenzustehen

Von Matthias Nothstein

Es war klar, dass das Thema Flüchtlingsunterbringung im Gemeinderat zu einer längeren Diskussion führen wird, zumal die Stadt – wie viele andere oder gar alle Kommunen – mit dem Rücken zur Wand steht. Umso wohltuender die Wortmeldungen der allermeisten Stadträte, die zum Beispiel betonen, dass die Herausforderungen nur im Miteinander zu schaffen sind oder die den Kraftakt, den die Verwaltung seit Langem leistet, würdigen, gepaart mit der Aufforderung an einzelne Ratskollegen, die ohnehin überlastete Verwaltung nicht auch noch mit unnötigen und ideologisch begründeten Anträgen zu belästigen.

Auf der anderen Seite ist es geradezu beängstigend, wie schnell das AfD-Duo glaubt, nun Oberwasser zu haben, nur weil alle Verantwortlichen bestätigen, dass Unterbringungsprobleme existieren. Statt im konstruktiven Miteinander nach Lösungen zu suchen, versuchen die beiden Stadträte, der Sitzung mit zum Teil unrealistischen Anträgen oder populistischen Zwischenrufen ihren Stempel aufzudrücken.

Fazit: Der Ton hat sich verschärft, was zum Sitzungsende hin in einem persönlichen Angriff auf eine Amtsleiterin gipfelte. Es ist zu befürchten, dass dieses unschöne Gebaren nur das Vorspiel zu künftigen Auseinandersetzungen im Gremium war. Und dabei wäre es angesichts der großen Aufgaben gerade jetzt so wichtig wie nie, einig zusammenzustehen.

m.nothstein@bkz.de

Im laufenden Jahr kommen nochmals 400 bis 500 Flüchtlinge dazu

Zuweisung Im vergangenen Jahr wurden Backnang knapp 500 Flüchtlinge für die Anschlussunterbringung zugewiesen, das sind fast doppelt so viele wie zur Hochzeit des Syrienkonflikts 2016/17, damals waren es 248 Personen. Die Prognose für 2023 geht von nochmals 400 bis 500 Personen aus. Die Flüchtlinge kommen nicht nur aus der Ukraine, sondern vermehrt wieder aus Syrien und Afghanistan. Wie sich die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien auswirkt, ist noch offen.

Unterkünfte Nach einer Anzeigenkampagne ist es der Stadt gelungen, eine große Anzahl an Wohnungen von privaten Anbietern für 160 Personen anzumieten. Zudem gibt es neuerdings in der Aspacher Straße 70/72 Platz für 49 Personen sowie im Haus Am Schillerplatz 3 für 36 bis 40 Personen. Ältere Unterkünfte befinden sich in der Hohenheimer Straße (55), am Etzwiesenberg (84), in der Gartenstraße (51), in der Stuttgarter Straße (24) und in der Fabrikstraße (20). Die Vergabe für Container auf dem Aurelis-Areal entlang der Maubacher Straße zum Gesamtpreis von 1,65 Millionen Euro wurde Mitte Dezember erteilt. Die Container werden im Laufe der nächsten Monate erstellt und können ab Juli mit maximal 76 Personen belegt werden. Die Gesamtkapazität summiert sich auf knapp 400 Plätze, davon sind derzeit 130 Plätze nicht belegt. Diese Unterkünfte sind nicht ausreichend, um dem Zustrom gerecht zu werden, das aktuelle Defizit für 2023 beträgt knapp 290 Plätze.

Pläne Laut Janocha verhandelt die Stadt aktuell mit den Eigentümern von zwei Gewerbehallen, die jeweils etwa 70 bis 80 Menschen Platz bieten würden. Allerdings gibt es beispielsweise in einer dieser Hallen noch keine Fenster. Um die Gebäude für Flüchtlinge tauglich zu machen, müsse die Stadt mehrere Hunderttausend Euro investieren.

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Erstellt:
25. Februar 2023, 06:00 Uhr

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