Das Bild vom Landleben hat sich gewandelt

Leben auf dem Land Dorfstolz oder Minderwertigkeitskomplex? Die meisten Dorfbewohner bewerten ihre Heimat positiv, weiß der Forscher Ulrich Harteisen. Das liegt auch daran, dass sie ihr Umfeld selbst gestalten können. Ein Beispiel dafür ist die Weissacher Gruppe Brucherei.

Sabine Weitzmann (links) und Sandra Krauß haben die Brucherei mit ihren Männern vor fast neun Jahren ins Leben gerufen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Sabine Weitzmann (links) und Sandra Krauß haben die Brucherei mit ihren Männern vor fast neun Jahren ins Leben gerufen. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

Weissach im Tal. Landei, Provinzler, Landpomeranze, Hinterwäldler: Menschen, die auf dem Dorf leben, mussten sich in der Vergangenheit manchmal mit unschönen Begriffen herumschlagen, wenn sie es mit Städterinnen und Städtern zu tun hatten. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt das Dorf als ein Ort der Rückständigkeit, wo Bierbankfeste und verrauchte Kneipen das Beisammensein bestimmten und Besuchern von außen mit Skepsis begegnet wurde. So zumindest das Bild von Außenstehenden.

Doch dieses Stereotyp ist kaum mehr vorhanden, denn immer mehr Menschen ziehen aufs Land. Das hat unter anderem mit den steigenden Miet- und Immobilienpreisen zu tun, die vor allem Wohnungen und Häuser in Städten und Stadtnähe stark verteuert haben, aber auch mit Corona. Die Pandemie hat gezeigt, dass Homeoffice funktioniert. Man ist nicht mehr zwingend auf die Stadt als Wohnort angewiesen, wenn man in der Stadt arbeiten möchte. Dazu kommen selbstverständlich noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren.

Ulrich Harteisen, Dorfforscher an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Göttingen und selbst Dorfbewohner, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Themenkomplex Dorf, Kleinstädte und ländliche Räume. Er sagt, in den vergangenen Jahren habe es eine spürbare Trendwende gegeben: „Ländliche Räume und Dörfer werden wieder deutlich positiver wahrgenommen als noch vor zehn oder 15 Jahren.“ Der Beschluss, auf dem Land zu leben, sei eine bewusste und sehr individuelle Entscheidung. Eine jederzeit umkehrbare noch dazu. Früher, sogar noch im 19. Jahrhundert, seien Dorfbewohner durch familiäre Bindungen und ihre Berufe an ihr Heimatdorf gebunden gewesen. „Jetzt sind die Menschen, die im Dorf leben, in ihrem Aktivitätenradius nicht mehr auf dieses Dorf beschränkt“, führt der Professor für Regionalmanagement und regionale Geografie aus. Die Folge: Die Unterschiede zwischen Land- und Stadtleben sind längst nicht mehr so groß wie früher. Durch Busse, Bahnen und den individuellen Nahverkehr sind Theater, Konzerte, Kinos, große Sportveranstaltungen auch vom entlegenen Weiler aus stets erreichbar; wenn auch die Anfahrt etwas länger dauert als mit der U-Bahn. Umgekehrt können auch die Städter jederzeit aufs Land fahren, um die Natur zu genießen.

Die meisten Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sind mit ihrer Heimat sehr zufrieden, hat die Forschungsgruppe „Ländliche Räume und Dorfentwicklung“, deren Sprecher Ulrich Harteisen ist, herausgefunden. „Die Selbstwahrnehmung der Menschen im Dorf ist überwiegend positiv“, berichtet er. In den Interviews, welche die Forschungsgruppe geführt hat, wurden zwar auch Mängel genannt, zum Beispiel der fehlende Allgemeinarzt im Dorf oder die schlechtere Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Eigentlich seien es aber eher die Städter, die das Leben auf dem Land als stark defizitär wahrnehmen, also eher auf das blicken, was im Dorf nicht vorhanden ist. „Das hat auch damit zu tun, dass diese Menschen das Leben im Dorf oft gar nicht differenziert kennen“, so Harteisen. Auch in der Wissenschaft habe ein defizitorientierter Blick – zumindest in der Vergangenheit – stark im Vordergrund gestanden.

Dass die Dorfbewohner ihr Wohnumfeld so hoch achten, hängt laut Harteisen mit verschiedenen Punkten zusammen. Da ist, ganz banal, die Nähe zur Natur, die viele Menschen schätzen. Für manche spielen auch die traditionellen Vereine und festen Rituale eine Rolle, die es in den meisten Dörfern nach wie vor gibt. Hinzu geselle sich „eine Orientierung zur Regionalität“ oder, anders ausgedrückt, der Wunsch nach Heimat und Zugehörigkeit. „Ein soziales Netz aufzubauen gelingt in Dörfern aufgrund der Überschaubarkeit der Strukturen oft besser als in großen Städten“, erklärt Harteisen. Der vielleicht wichtigste Punkt aber ist aus seiner Sicht das Prinzip der Selbstwirksamkeit: Die Menschen haben das Gefühl, ihr Umfeld selbst gestalten und somit ihre Lebensqualität in die eigene Hand nehmen zu können. Sei es in Bezug auf das eigene Haus und den Garten oder in einem größeren Rahmen, der Dorfgemeinschaft. Indem sie sich selbst engagieren, aktiv werden, können sie dafür sorgen, dass ihr Umfeld und ihr Alltag ihren Vorstellungen entsprechen.

„Ganz genau!“, bestätigt Sabine Weitzmann, auf das Ergebnis der Göttinger Forschungsgruppe angesprochen. Zusammen mit ihrem Mann Volker Götz, Sandra Krauß und deren Mann Michael Kübler hat sie vor fast neun Jahren die Brucherei gegründet. Bei der traditionellen 1.-Mai-Wanderung der Brucher Feuerwehr, in der Götz und Kübler aktiv sind, haben sich die vier 2013 das Ziel gesetzt, den Weissacher Ortsteil Bruch mit Aktionen zu beleben und dadurch ein Wirgefühl im Dorf entstehen zu lassen. Denn ein Wirtshaus oder ein Café, wo man sich treffen könnte, gibt es in Bruch nicht. Die Gruppe steht allen Brucherinnen und Bruchern offen. „‚Für Bruch, von Bruch, mit Bruch‘ ist unser Motto“, erklärt Sandra Krauß. In einer WhatsApp-Gruppe seien ungefähr 50, 60 Leute miteinander vernetzt. „Wenn wir etwas auf die Beine stellen, verteilen wir aber auch Flyer im Ort, sodass alle, die Lust haben, dazukommen können“, sagt Sabine Weitzmann.

Der damalige Bürgermeister Ian Schölzel konnte in den Anfängen der Gruppe als Schirmherr gewonnen werden, so war der Zugang zu gemeindeeigenen Räumlichkeiten gesichert. Die Veranstaltungen kamen schon immer gut an. Gleich bei der ersten, im Brucher Dorfhaus, mussten viele wieder nach Hause gehen, weil sie keinen Platz mehr fanden. Raum ist für etwa 30 Gäste – 140 wollten teilnehmen. Sehr beliebt sind die regelmäßigen Veranstaltungen der Brucherei wie das jährliche Christbaumverbrennen oder der Weißwurstfrühschoppen an Neujahr. Aber auch bei spontanen Events, etwa bei einem abendlichen Spiel auf der selbst angelegten Boulebahn neben dem Spielplatz, kommen an Sommerabenden schon mal 15, 20 Leute zusammen.

„Der Gedanke hinter der Gruppe war, dass sich eine Eigendynamik entwickelt, dass nicht immer nur die Brucherei den Anstoß gibt, etwas zusammen zu unternehmen. Wir wollten nur den Initialfunken zünden“, erklärt Sandra Krauß. Daraus haben sich unter anderem die Brucher Frauengruppe und die Männergruppe, aber auch viele neue Aktionen entwickelt. „Die Leute haben super Ideen!“, freut sie sich.

Dass nicht alle der rund 650 Brucher in der Brucherei involviert sind, würde der Forscher Ulrich Harteisen sicher als normal ansehen. Er spricht von „fragmentierten Gemeinschaften“ auf dem Land: „Es gibt diese Vorstellung, dass in einer Dorfgemeinschaft alle miteinander vernetzt sind. Das ist aber das Bild einer historischen Dorfgemeinschaft, die vielleicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeprägt war.“ Früher seien die Bewohner eines Dorfs aufeinander angewiesen gewesen, im Alltag wie im beruflichen Miteinander. Wer heute Gemeinschaft lebe, mache das freiwillig, weil er oder sie Spaß daran habe, etwas zusammen zu unternehmen. Daraus könne sich ein starkes Wirgefühl entwickeln.

So scheint es auch bei der Brucherei zu sein. Sabine Weitzmann ist vor 16 Jahren von Konstanz nach Bruch gezogen. „Ich hab eigentlich immer gesagt: Ich zieh nie auf ein Dorf. Jetzt will ich gar nicht mehr weg.“ Ein kleines Stückchen weiter ist sie zwar doch gezogen, seit einem Monat wohnen sie und ihr Mann in Althütte. Der Brucherei werden die beiden aber erhalten bleiben. Und die nächste Aktion steht schon fest: Am 30. April wird die Gruppe beim traditionellen Maibaumaufstellen mithelfen.

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Erstellt:
9. April 2022, 13:00 Uhr

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