Die Zeiten der Dorfprügeleien sind vorbei
Leben auf dem Land Rivalitäten zwischen einzelnen Gemeinden gehören der Vergangenheit an. In vielen Kommunen im Raum Backnang wird das Miteinander vorbildlich und aktiv gelebt. Die Vorteile des Zusammenhalts überzeugen auch alte Kritiker der Gemeindezusammenlegungen.
Von Matthias Nothstein
Backnang. Es soll in Gelsenkirchen Kinder geben, die schon vor ihrer Geburt als Mitglied bei Schalke 04 eingetragen wurden. Und die das 25 Kilometer entfernte Westfalenstadion in Dortmund im Leben niemals betreten würden. Und umgekehrt. Die Rivalität zwischen den Fußballvereinen ist legendär. Solche existieren auch in Hamburg zwischen dem HSV und St. Pauli oder in München zwischen den Bayern und den 60ern. Aber selbst acht Ligen drunter knallt’s zuweilen. Da gibt es Dorfvereine, die dem Nachbarn das Schwarze unter den Nägeln nicht gönnen. Wobei zur Wahrheit gehört, dass die tiefgründige Rivalität oder gar Feindschaft in den Dörfern deutlich abgenommen hat. Was unter anderem mit der Mobilität der Menschen zu tun hat. Der Arbeitsplatz am Ort ist heute eher die Ausnahme und die Zeiten, in denen es verpönt oder gar „verboten“ war, im Nachbardorf auf Brautschau zu gehen, sind ebenfalls passé. Dazu kommt, dass schon viele Kinder zum Schulbesuch über die Grenzen des Dorfs hinauskommen.
Ein schönes Beispiel, wie die Rivalität im Laufe der Jahre abgenommen hat, ist das Verhältnis zwischen dem TSV Oberbrüden und dem TSV Lippoldsweiler. Seit sieben Jahren bilden die beiden Vereine in der C- und D-Jugend eine Spielgemeinschaft, und inzwischen gibt es sogar eine B-Jugend. Schwierig ist noch die Bildung einer A-Jugend, das hängt mit Corona zusammen.
Wie extrem wichtig eine funktionierende Nachwuchsarbeit ist, das kann jeder an der Spielklasse der beiden Vereine ablesen. Sie dümpeln in unteren Ligen umher, während Kommunen in vergleichbarer Größe wie etwa Allmersbach im Tal zwei beziehungsweise drei Klassen höher kicken. Zum Teil mit Spielern aus Auenwald, die in der Jugend aufgrund mangelnder Alternativen abgewandert sind und jenseits der Dorfgrenzen ihre neue Heimat gefunden haben.
Viele Jahre lang scheiterten alle Versuche, eine Spielgemeinschaft zwischen Oberbrüden und Lippoldsweiler zu schmieden. Eugen Holzwarth, der 48 Jahre lang Jugendleiter des TSV Oberbrüden war, winkt ab: „Ich weiß nicht, wie viele Sitzungen wir abgehalten haben, weil es für beide Vereine nicht reichte, eine Jugend zu stellen. Ich habe über 30 Jahre immer wieder Anlauf zu einer Einigung genommen, allein die Frucht ist nicht aufgegangen, bis beide Vereine gescheitert sind. Lippoldsweiler spielt heute in der Sicherheitsliga, und wenn wir nicht aufpassen, passiert uns das Gleiche.“ Andere Vereine haben das besser gelöst, ist sich Holzwarth sicher.
Doch warum wollte jeder Verein so lange wie möglich selbstständig sein? Holzwarth erinnert sich an etliche Sitzungen, bei denen eine Fusion in Angriff genommen werden sollte, und jedesmal sagte am Ende einer: „Wir haben jetzt wieder elf oder 13 Spieler, wir machen wieder für uns weiter.“ Ginge es nach Holzwarth, so könnte er sich einen „FC Auenwald“ vorstellen, das wäre für die Aktiven besser. Das gilt für viele andere vergleichbare Vereine. Irgendwie scheint sich der Eindruck aufzudrängen, es gelte die Ansicht, man wolle lieber jeder für sich niederklassig vor seiner Haustür kicken statt gemeinsam erfolgreich.
Großerlachs Bürgermeister Christoph Jäger sieht bei diesem Thema aber keinen großen Unterschied zwischen Stadt und Land. „So wie in den Städten Rivalitäten zwischen Blocks und Vierteln ihre Tradition haben, so gilt dies gewiss auch für benachbarte Ortschaften auf dem Land.“ Ein Grund sind für ihn „die nicht immer freiwilligen Zusammenschlüsse“ im Zuge der Gemeindereform in den 70er-Jahren. Diese haben laut Jäger in manchen Gegenden „zunächst nicht unbedingt zur Befriedung beigetragen“. Darum haben sich auch viele Doppelstrukturen im Vereinsleben teilweise bis heute gehalten. Doch Jäger ist optimistisch: „In den vergangenen Jahren sind zunehmend Zusammenschlüsse erfolgt, bei Kirchengemeinden, Feuerwehren sowie Sport- oder Landfrauenvereinen.“
Groß war die Rivalität etwa bei den Feuerwehren. Als das Gerätehaus in Oberbrüden abgerissen und mit dem Verkaufserlös der Grundstücke die zentrale Feuerwehr in Unterbrüden gebaut wurde, quittierten 20 Wehrmänner aus Oberbrüden ihren Dienst. Heinz Klenk, der 15 Jahre lang Kommandant der Auenwalder Feuerwehr war und ihr Ehrenkommandant ist, dazu seit 1968 Gemeinderat, erinnert sich mit Grausen: „Der Streit ums Feuerwehrhaus hat mich ein paar Jahre meines Lebens gekostet.“
Etliche Gründe für Rivalitäten sind zuweilen irrational. Wenn Holzwarth etwa an die Zeit vor der Verwaltungsreform vor 50 Jahren zurückdenkt, als jeder Teilort als selbstständige Gemeinde einen eigenen Bürgermeister hatte, so bemerkt er heute schmunzelnd: „Wir in Oberbrüden haben uns schon als reichere Gemeinde gefühlt. Wir haben in die Gemeinde Auenwald den meisten Wald eingebracht, die anderen sind mit leeren Händen gekommen.“ Die älteren Dorfbewohner hätten abfällig von der „Geisenwand“ gesprochen, wenn sie Lippoldsweiler meinten, und Unterbrüden, der heutige Hauptort, war lange Zeit sehr strukturschwach.
Die Zeiten haben sich geändert. Bürgermeister Jäger hat beobachtet, dass zwar manch ein Vorbehalt auch heute noch hier und da vorherrsche, „aber die Zeiten, als man mit Ächtung oder gar Dorfprügel rechnen musste, wenn man im Nachbarort poussierte, sind glücklicherweise vorbei“.
Was bis heute an Rivalität verblieben ist, verdient laut Jäger nur in den wenigsten Fällen diese Bezeichnung und ist in der Regel auch nicht mehr schädlich, sondern im Gegenteil sogar positiv zu sehen. „Denn gerade in einer zunehmend globalisierten Welt brauchen die Menschen doch auch einen Halt, ein Umfeld, mit welchem sie sich identifizieren können. Und dieses definiert sich in aller Regel, beginnend in den Familien, über eine Art Gruppenbildung – ein Zugehörigkeitsgefühl zur Nachbarschaft, zum eigenen Dorf, zum eigenen Viertel.“ Das setzt Jäger zufolge die Definition eines „wir“ und „die anderen“ voraus. Solch eine Denkweise könnte man nun als Rivalität und Abgrenzung zu „den anderen“ verstehen. Das wäre aber zu kurz gedacht. Viel wichtiger ist die gemeinschaftsstiftende Kehrseite. Denn in Wirklichkeit schafft es den dringend notwendigen Nährboden für so wichtige Dinge wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Solidarität, gegenseitiges Verständnis, Hilfsbereitschaft – Attribute, ohne die in den Dörfern vieles, nicht nur im Ehrenamt, nie möglich gewesen wäre – und auch künftig nicht möglich sein könnte.
In der Serie „Leben auf dem Land“ beleuchten wir verschiedene Aspekte des dörflichen Lebens in unserer Region genauer.