Städtebauliche Chancen fürs Dorf
Leben auf dem Land Die Infrastruktur eines Orts aufrechtzuerhalten übersteigt zumal bei finanzschwachen Gemeinden oft die Leistungskraft. Förderprogramme können hier helfen – und mitunter identitätsstiftend wirken.
Von Nicola Scharpf
Spiegelberg. „Wer durch Spiegelberg durchfährt, wird nicht dazu animiert anzuhalten.“ Diese Worte klingen Bürgermeister Uwe Bossert noch im Ohr. Sie stammen ungefähr aus dem Jahr 2002 und wurden von einer damaligen Gemeinderätin dem Bürgermeister gegenüber geäußert. 20 Jahre später, im Jahr 2022, kann Bossert antworten: „Das ist jetzt anders.“ Dass das heute anders ist, liegt darin begründet, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten struktur- und förderpolitische Instrumente genutzt wurden, um in die Attraktivität und Infrastruktur des Orts zu investieren.
Allerdings hat Spiegelberg laut Statistischem Landesamt im Jahr 2020 das geringste Istaufkommen an Gewerbesteuer zwischen Rems und Murr verzeichnet, gefolgt von Großerlach und Kaisersbach. Nimmermüde wiederholt Kämmerin Ina Krone in den Haushaltsberatungen Jahr für Jahr, wie sehr die Gemeinde auf Zuschüsse und Fördergelder angewiesen ist, wenn es um Investitionen in die Infrastruktur und andere Projekte geht. Für viele notwendige Maßnahmen fehlt der Gemeinde die finanzielle Leistungskraft. Das Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum (ELR), die Förderkulisse Leader, das Landessanierungsprogramm (LSP), der Ausgleichstock und andere Förderprogramme (siehe Anhang) helfen, damit Dörfer lebenswert bleiben können.
In Sulzbach an der Murr zum Beispiel ist es gelungen, mithilfe des Landessanierungsprogramms die Ortsmitte voranzubringen. So konnte nicht nur die Industriebrache Murrhardter Straße saniert werden, sondern so umgewandelt werden, dass die Firma Erkert der Gemeinde erhalten blieb. Aktuell läuft das Landessanierungsprogramm Ortskern II. Im benachbarten Oppenweiler soll das Sanierungsgebiet „Nördliche Hauptstraße“ durch Förderung aus dem Landessanierungsprogramm angepackt werden, weil sich dadurch großes Potenzial für die Freiraumqualität in der Ortsmitte bietet. Und in Spiegelberg hat im Oktober vergangenen Jahres das Landessanierungsprogramm für den Kern des Hauptorts nach 16 Jahren Laufzeit seinen Abschluss gefunden – einen krönenden Abschluss, so darf man sagen, mit der Neugestaltung der öffentlichen Freiflächen entlang der sanierten Ortsdurchfahrt L1066, auf der abschnittsweise nun Tempo 30 gilt.
Während der Programmlaufzeit wurde im Sanierungsgebiet als Erstes der Umgebungsbereich der Kirche neu gestaltet – eine viel beachtete, erste städtebauliche und funktionale Aufwertung in der Ortsmitte. Des Weiteren wurde eine öffentliche Fußgängerbrücke über die Lauter auf Höhe des Pflegeheims gebaut und es wurden 13 Modernisierungsvereinbarungen mit Bürgern abgeschlossen – darunter die Modernisierung des Kulturdenkmals Weinmann’sches Haus und des ehemaligen Pfarrhauses direkt an der Ortsdurchfahrt. Was wäre Spiegelberg ohne Landessanierungsprogramm?
„Es wäre nicht das, was es jetzt ist“, sagt der Bürgermeister. „Was hätten wir? Eine marode Ortsdurchfahrt. Wir würden weiterhin über einen Schotterweg in eine nicht barrierefreie Kirche gehen. Wir hätten keine 26 modernisierten Wohnungen, sondern Altbestand und Leerstände. Aktuell stehen nur vier Wohneinheiten entlang der gesamten Ortsdurchfahrt leer. Hätten wir nicht das Instrument der Sanierung gehabt, hätten die Eigentümer des Weinmann’schen Hauses beispielsweise das nie so umsetzen können. Das wäre nicht möglich gewesen.“ In einem ähnlichen Zeitraum wie das LSP im Hauptort hat ein anderes Förderprogramm, das ELR, für Entwicklung in Spiegelbergs Teilorten gesorgt.
Die Initialzündung, dass sich das ELR in Spiegelberg etablieren konnte, hat 2002 die Sanierung des Schulhauses in Großhöchberg gegeben. Ein kommunales Paradebeispiel dafür, wie sich mit dem ELR arbeiten lässt, ist das Schulhaus in Nassach mit Anbau für die Feuerwehr, bei dem zusätzlich noch Mittel aus dem Ausgleichstock zur Verfügung standen. Seit 2002 wurden in Nassach, Vorderbüchelberg, Jux, Großhöchberg und Dauernberg im Rahmen des ELR 46 Projekte mit gut 1,4 Millionen Euro gefördert. Insgesamt wurden, angestoßen durch das Förderprogramm, Investitionen von fast 11 Millionen Euro in den Teilorten getätigt. Der Förderrahmen für das Sanierungsgebiet im Hauptort betrug 2,21 Millionen Euro. Es wurden 1,33 Millionen Euro Finanzhilfe ausbezahlt, was 60 Prozent der förderfähigen Kosten entspricht. „Initiiert durch die Fördermittel wurden im Sanierungszeitraum zehn Millionen Euro investiert. Das ist ungefähr das Siebenfache der Finanzhilfe“, sagt Projektleiter Norbert Neuser von der LBBW Immobilien Kommunalentwicklung GmbH, der Spiegelberg als Sanierungsbetreuer seit vielen Jahren begleitet. Er verdeutlicht, dass die Bedeutung zum Beispiel eines Straßensanierungsprojekts wie der Spiegelberger Ortsdurchfahrt weit darüber hinausgeht, dass der Verkehr über eine makellos neue Fahrbahndecke fließen kann: „Das hat hohe Bedeutung für die Attraktivität eines Orts. Die Identität vor Ort wird stärker betont, die Leute identifizieren sich mehr. Und das wirkt sich positiv auf die Motivation der Menschen aus, in ihre Gebäude zu investieren.“ Im Zuge der Sanierung der öffentlichen Freiflächen hätten auch Privatleute die Chance genutzt, ihre Einfahrten neu zu machen. Der Vorbereich zum Lebensmittelmarkt habe sich dank erweiterter und geordneter Parkmöglichkeiten in seiner Gesamtfunktion verbessert. Auch die Gestaltung des Platzes vor der Pizzeria Alter Simpel sei ein Beispiel, wie sich ein Bereich mithilfe von Fördergeldern mausern kann. „Der Alte Simpel ist die einzige Gastronomie im Hauptort Spiegelberg. Wie kann ich so jemanden unterstützen? Das betrachte ich als Aufgabe der Gemeinde“, ergänzt Bossert.
Die Gemeinde muss einen Eigenanteil leisten, das ist der limitierende Faktor
Neuser sieht in der städtebaulichen Sanierung das Ergreifen und Umsetzen von Chancen. „Nicht jeder Private macht mit, nicht alles kann sich die Gemeinde leisten. Denn die Gemeinde muss einen Eigenanteil leisten, trotz Zuschüssen. Das ist der limitierende Faktor.“ Von der Idee bis zur Umsetzung würden oft Jahrzehnte vergehen. Dafür brauche es einen langen Atem. „Das Landessanierungsprogramm bietet zwar Fördermöglichkeiten. Aber es braucht auch jemanden, der Geld in die Hand nimmt, und jemanden, der sich vorne hinstellt und sagt: Wir machen das jetzt.“ Sein Rat lautet: „Erst das Machbare umsetzen, aber das Visionäre im Hinterkopf behalten. Eine Kommune wird nie fertig, es sind immer Dinge zu tun.“ Das sieht man in Spiegelberg wohl genauso: Die Vorarbeiten daran, ein zweites Sanierungsgebiet auszuweisen und einen Anschlussantrag zur Aufnahme ins Landessanierungsprogramm zu stellen, haben begonnen. Das heißt, es wird ein gesamtörtliches Entwicklungskonzept für alle Ortsteile erstellt – unter Beteiligung der Bürger. Daraus werden anschließend die Ziele für den Hauptort abgeleitet und in einem integrierten Stadtentwicklungskonzept festgehalten. „Wünschenswert“, so Bossert, für ein Sanierungsgebiet II wäre eine umfassende Modernisierung des Rathauses, weil Handlungsbedarf hinsichtlich der Funktionalität und Barrierefreiheit besteht. Bossert: „Das haben wir immer zurückgestellt. Es ist ein Kraftakt, der noch nicht gestemmt werden konnte.“ Auch eine Konzeption für die Entwicklung des Areals, auf dem einstens das Gasthaus Hirsch stand, könnte vorangebracht werden. Neuser: „Wenn jemand sagt, ich will mein Haus modernisieren und ein Café eröffnen, sind das Dinge, die unterstützt werden. Jedes Haus ist wichtig, jede Ladeneinheit, jeder Gastronomiebetrieb.“ Damit man beim Durchfahren animiert wird anzuhalten.
In der Serie „Leben auf dem Land“ beleuchten wir verschiedene Aspekte des dörflichen Lebens in unserer Region genauer.Landessanierungsprogramm Es ist Teil der Förderung städtebaulicher Erneuerung. Gefördert werden städtebauliche Erneuerungsmaßnahmen in kommunalen Sanierungsgebieten mit dem Ziel, Missstände in einer Gemeinde zu beheben, zu mildern oder Teile eines Gemeindegebiets neu zu entwickeln. So sollen bessere Rahmenbedingungen für private und gewerbliche Investitionen entstehen. Das Landessanierungsprogramm bezieht sich auf geschlossene Ortsmitten und urbane Themen. Gefördert werden nicht Einzelprojekte, sondern Maßnahmenbündel und gebietsbezogene Projekte, die sich gegenseitig unterstützen. Die Landesbeteiligung beträgt bei Gebäudesanierungen 60 Prozent der förderfähigen Kosten, bei der Modernisierung eines ortsgeschichtlich bedeutsamen Denkmals sind es 85 Prozent und bei Modernisierungen wie Freiflächen im öffentlichen Raum oder wie eines Kirchplatzes 100 Prozent.
Ausgleichstock Mit dem Ausgleichstock unterstützt das Land Baden-Württemberg die Infrastruktur und die Wirtschaft der Gemeinden im ländlichen Raum. Gefördert werden neben dem Neubau von öffentlichen Einrichtungen auch dringend erforderliche Sanierungsmaßnahmen an bestehenden öffentlichen Gebäuden. Viele Maßnahmen können nur mit Mitteln aus dem Ausgleichstock verwirklicht werden, da sie die finanzielle Leistungskraft der einzelnen Gemeinde übersteigen. So dient der Ausgleichstock dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. 2021 wurden im Regierungspräsidium Stuttgart 28,2 Millionen Euro an finanzschwache Kommunen verteilt. Zum Beispiel erhielt die Gemeinde Auenwald für die Erweiterung des Kindergartens Hohnweiler 410000 Euro Zuschuss. Im Jahr 2020 erhielt Murrhardt für den Neubau einer Sporthalle bei der Walterichschule und Herzog-Christoph-Schule 980000 Euro.
Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum Das ELR fördert flächendeckend die Vorhaben von Kommunen, Betrieben und Privatpersonen. In den letzten 25 Jahren wurden über 26000 Projekte gefördert. Dafür wurden vom Land Baden-Württemberg 1,6 Milliarden Euro an Fördermitteln bereitgestellt. Landesweit zog dieser Zuschuss eine Investitionssumme von 12,6 Milliarden Euro nach sich.
Leader Das Regionalentwicklungsprogramm zielt darauf ab, die Bürgerbeteiligung besonders zu berücksichtigen. Leader verfolgt einen Bottom-up-Ansatz, also eine Entwicklungsstrategie von unten nach oben. So können Bürgerinnen und Bürger, Vereine , Verbände und Institutionen selbst entscheiden, welches Strukturprojekt sie vor Ort gerne umsetzen möchten. Von 2014 bis 2020 standen für Leader landesweit insgesamt etwa 75 Millionen Euro EU- und Landesmittel zur Verfügung.