„Das braune Haus mit dem roten Dächle“

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Das Schießhaus stand seinerzeit an der Abzweigung nach Maubach. Erst im 19. Jahrhundert weitete sich die Bebauung der heutigen Stuttgarter Straße stadtauswärts weiter aus.

Das Gasthaus zur Linde um 1930: Vor dem Haus befand sich eine Leuna-Zapfsäule. Repros: P. Wolf

Das Gasthaus zur Linde um 1930: Vor dem Haus befand sich eine Leuna-Zapfsäule. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

Backnang. Ursprünglich bezeichnete man den Bereich um den heutigen Burgplatz als Obere Vorstadt. Nach dem Stadtplan von 1832 endete die Bebauung der heutigen Stuttgarter Straße stadtauswärts gesehen rechts am Abzweig der Straße nach Maubach. Dort befand sich das einstige Schießhaus und spätere Stadtspital. Das Haus ist um das Jahr 1600 gebaut worden und hatte den Stadtbrand von 1693 überstanden, schreibt Helmut Bomm in seinem Buch „Was Straßenschilder erzählen“. Den Abschnitt von der früheren Schildwirtschaft „Rößle“ (heute Adenauerplatz) bis Schießhaus bezeichnete man als Schießgasse. Ab 1888 wurde die heutige Stuttgarter Straße in Weissacher Straße umbenannt.

Die Weissacher Straße um 1900. Im Jahr 1929 wurde sie in Stuttgarter Straße umbenannt.

Die Weissacher Straße um 1900. Im Jahr 1929 wurde sie in Stuttgarter Straße umbenannt.

Das Schießhaus diente mit dem dahinterliegenden Übungsplatz zur Weiterbildung der Landmiliz, deren Aufgabe die Landesverteidigung war, bevor es ein stehendes Heer gab, informiert Gustav Hildt in den Blättern des Murrgauer Altertumsvereins 1910. Zum Schießhaus gehörten zwei Schießstände. Die dahinterstehende Mauer diente als Kugelfang. Dieser Schießwasen musste der 1878 eröffneten Bahnstrecke Backnang–Murrhardt weichen. Auf den alten Schießständen wurde aber nicht nur die Landmiliz eingeübt, auch die Backnanger Schützengesellschaft benutzte sie. 1826 wurde nach Abbruch des Armenhauses in der Sulzbacher Vorstadt das Schießhaus auch als Armenhaus genutzt, ab 1853 als Armenhaus mit Spital. Zum 1. Oktober 1960 wurde das Stadtspital geschlossen, im Juli 1961 mit den Abbrucharbeiten zur Verkehrsverbesserung begonnen.

Im Deutschen Kaiser war ein Tanzsaal

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitete sich die Bebauung der Oberen Vorstadt stark aus. Neue Gaststätten entstanden stadtauswärts. Am 25. Juli 1875 eröffnete David Erb in der späteren Stuttgarter Straße 37 die Schankwirtschaft Deutscher Kaiser, in deren erstem Stock sich ein Tanzsaal befand, so das Backnang-Lexikon. 1890 erwarb sie Thomas Volz aus Degmarn im Oberamt Neckarsulm. Nach seinem Tod 1941 führte seine Frau Helene den Deutschen Kaiser weiter, 1958 wurde er von der Tochter Ottilie Schumacher übernommen.

Restauration zum Deutschen Kaiser um 1900.

Restauration zum Deutschen Kaiser um 1900.

Anfang der 1960er-Jahre traf sich im Deutschen Kaiser eine Gruppe von Gymnasiasten, die in Backnang einen Treffpunkt schaffen wollten, wo man Rockmusik hören oder zusammensitzen und diskutieren konnte. Die Wirtin, Ottilie Schumacher, stellte den Gewölbekeller ihrer Gaststätte zur Verfügung. Man nannte die Rockkneipe „Donna-Club“. Schnell sprach sich die Kunde von dem neuen Schülertreff herum, sodass schon bald der Platz zu eng wurde. Der Tanzsaal im ersten Stock des Hauses wurde nicht mehr genutzt, und so zog man 1965 in die größeren Räumlichkeiten um – die Rock-Disco „Club Backnang“ war geboren. Sie wurde zu einem der beliebtesten Treffpunkte für junge Leute in Backnang. Mit Unterbrechungen gab es den Club Backnang bis 2018. Nach der Schließung des Deutschen Kaisers wurden die Wirtschaftsräume im Erdgeschoss ab 2000 vom spanischen Lokal „Casa Carmen“ genutzt. Seit 2011 ist darin das griechische Restaurant „Aura“ untergebracht.

Ein weiteres Wirtshaus in der heutigen Stuttgarter Straße blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Ebenfalls 1875 eröffnete Johann Erb im kurz zuvor erbauten Haus in der heutigen Stuttgarter Straße 58 eine „Schankwirtschaft mit Wein, Obstmost, Bier und Branntwein“, so das Backnang-Lexikon. Zehn Jahre später übernahm Georg Kottler aus Cottenweiler die „Linde“ mit Wirtschaftsgarten und beheizter Kegelbahn. Eine Linde neben dem Gebäude hatte der Wirtschaft ihren Namen gegeben.

In der Linde traf sich die NSDAP

Der aus Dettingen an der Erms stammende Karl Dirr erwarb das Gebäude 1913. lm Haus wohnte auch sein Sohn Alfred Dirr, der spätere Kreisleiter der NSDAP. In der Linde wurde 1928 die Ortsgruppe der NSDAP gegründet. Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde der erste Stock des Hauses Sitz der Kreisleitung der NSDAP. Im Dachgeschoss wohnte aber auch mit Duldung Dirrs ein stadtbekannter Kommunist, weshalb das Gebäude „Braunes Haus mit rotem Dächle“ genannt wurde. Über eine Episode aus jener Zeit schreibt Helmut Bomm im Backnanger Jahrbuch, Band zwei, von 1993/94: Im Dachgeschoss des Gebäudes wohnte die Familie Weller. Der Schreiner Friedrich Weller war Kassier des Holzarbeiterverbands und Mitglied der Kommunistischen Partei, bis zum Verbot der Organisationen nach 1933. Sein Sohn Fritz wurde oft als „Kommunistenbüble“ beschimpft. Eines Tages bestellte Kreisleiter Dirr den Schüler zur Kreisleitung ein und fragte ihn, warum er nicht in der Hitlerjugend sei. Fritz antwortete – von der Mutter auf eine solche Frage vorbereitet –, der Vater habe kein Geld, um eine Uniform zu kaufen. Darauf sagte Dirr: „Jetzt gehst du zu deinem Vater und fragst ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn du zur Hitlerjugend gehst.“ Was wollte der Vater schon sagen, als „mir ist es gleich“? Darauf schickte Dirr den Jungen in Backnanger Geschäfte, um sich mit Sommer- und Winteruniform sowie Schuhen und Stiefeln auf Kosten des Kreisleiters einzukleiden.

1938 verpachtete Karl Dirr die „Linde“ an Metzgermeister Franz Hartner aus Obermedlingen in Bayern, der das Gebäude 1953 kaufte. Sein Sohn Helmut Hartner übernahm 1979 die Metzgerei und das Gasthaus „Linde“. Die Spezialität des Hauses waren Wildgerichte, da Hartner Jäger war. Für diese Gerichte reisten viele Auswärtige an. Bei einem Gespräch mit der Backnanger Kreiszeitung 2009 erzählte der damals 70-jährige Wirt, dass einst sogar Muammar al-Gaddafi bei ihm gespeist habe, der in Backnang die Firma Kaelble besuchte. Al-Gaddafi habe Rostbraten und Spätzle gegessen, so Hartner. Seine Schwester Doris Kleine, die bei dem Gespräch anwesend war, warf wie aus der Pistole geschossen ein: „Ja, dem hat es so gut geschmeckt.“ Bis zu seinem Tod 2018 war Helmut Hartner der Wirt der „Linde“.

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Erstellt:
14. Juli 2021, 11:30 Uhr

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