Das Ende der „Wohlfühlleistungen“ in den Arztpraxen
Lange Wartezeiten, Aufnahmestopps für Neupatienten, Streit um Kostenerstattungen und abgeschaffte Leistungen – die medizinische Versorgung im Rems-Murr-Kreis scheint an Qualität einzubüßen. Ärztinnen und Ärzte schlagen indessen Alarm und sehen die Politik in der Pflicht.
Von Kai Wieland
Rems-Murr. Eli Schwarz muss sich einen neuen Augenarzt suchen. Die 93-Jährige lebt in einem Backnanger Pflegeheim und leidet an einer Erkrankung der Makula; ihre Sehkraft beträgt nur noch 20 Prozent. Als sie unlängst beim nahe gelegenen Augenarzt ihre Tropfen abholen und einen neuen Kontrolltermin vereinbaren wollte, sei ihr dort allerdings lediglich eine Infobroschüre über Augenärzte in der Umgebung ausgehändigt worden, verbunden mit dem Hinweis, dass sie in der Praxis in Backnang nicht mehr weiterbehandelt werde.
Für ihre Nichte Ingrid Figel, die im Nachgang des Praxisbesuchs telefonisch eine Erklärung vom betreffenden Arzt verlangte, jedoch nicht zu diesem durchgestellt worden sei, ist der Vorfall ein Skandal: „Meine Tante hat ihr ganzes langes Leben gearbeitet, stets und pünktlich den deutschen Staat und die Krankenkasse bedient und nun im Alter wird sie einfach ausgekehrt.“ Einen neuen Arzt habe man für sie noch nicht ausfindig gemacht. „Zu dem Arzt in Backnang konnte sie mit dem Rollator gehen. Soll sie jetzt vielleicht nach Oberstenfeld laufen?“ Zwar sei man sich bewusst, dass die Krankheit stagniere und nicht mehr besser werde, aber es gehe darum, trotzdem weiterhin ordentlich und mit Respekt behandelt zu werden.
Eine Frage der Belastungsgrenze
Jens Steinat, Sprecher der Ärzteschaft Backnang, zeigt sich über den Fall verwundert. „Sollte es sich so zugetragen haben, wäre es fragwürdig. Meine Art des Patientenumgangs ist es jedenfalls nicht“, sagt der Mediziner. „Ganz bestimmt ist das aber nicht die Regel bei den Ärzten hier im Raum Backnang.“ Zugleich stellt Steinat allerdings klar: „Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind eigentlich überengagiert und arbeiten an der Belastungsgrenze.“ Wenn diese einmal erreicht oder überschritten sei, zwinge dies bisweilen zu entsprechenden Maßnahmen. „Ich nehme dann beispielsweise keine neuen Patienten mehr auf.“
Der betreffende Backnanger Augenarzt lehnt es mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht ab, den Umgang mit Eli Schwarz zu kommentieren. In einer ausführlichen Stellungnahme schildert er jedoch die allgemeinen Gründe und Ursachen, die zu einem solchen Fall führen können, den er selbst als „bedauerliche Geschichte“ bezeichnet. „Da wir uns an die Regeln und Gesetze halten müssen, kommt es öfters vor, dass wir nicht alle Wünsche erfüllen können beziehungsweise dürfen, zumindest nicht immer zu Lasten der Krankenkasse“, erklärt er. In Einzelfällen führe dies dazu, dass das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört werde, etwa durch aggressives Verhalten des Patienten beim bloßen Hinweis, dass dieser zunächst die Kostenerstattung klären solle. „In diesen wenigen Fällen können wir diese Patienten leider nicht mehr betreuen.“ Darüber hinaus gebe es seltene Situationen, in denen austherapierte Patienten nach den früher üblichen traditionellen Kontrollterminen verlangten, für die aber keine medizinische Sinnhaftigkeit mehr bestehe. „Diese Terminkapazität wird jedoch für andere Patienten benötigt, denen man helfen kann und muss.“ Zu Reibungen zwischen Patienten und Ärzten komme es also insbesondere dann, wenn die Erwartungen von Ersteren nicht bedient werden können. „Die Wünsche sind natürlich unbegrenzt, deshalb müssen wir Grenzen setzen“, meint der Backnanger Augenarzt.
Notfällen wird auch zukünftig immer Priorität eingeräumt
Auch Jens Steinat nimmt eine Diskrepanz wahr zwischen der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit und dem, was realistischerweise leistbar ist. „Es ist ein Problem mit vielen Ursachen, aber ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, dass die Politik in dieser Hinsicht unehrlich ist“, stellt er fest. „Sie behauptet, dass jede medizinische Leistung immer und überall abrufbar sei. Dem ist ganz einfach nicht so.“
Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass es zwischen den niedergelassenen Ärzten und der großen Politik und den Krankenkassen knirscht. Bereits im Frühjahr sorgte ein Aufruf des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie für Aufsehen: Aufgrund einer Kürzung der Erstattungsbeträge für ambulante Mandeloperationen sollten Letztere vorerst ausgesetzt werden, was zu langen Wartezeiten insbesondere bei Kindern und Jugendlichen führte (wir berichteten). Unwirtschaftliche Leistungen könnten nicht mehr angeboten werden, so die damalige Argumentation. „Das ist aber überall so“, gibt Jens Steinat zu bedenken. Davon ausgenommen seien natürlich Notfälle, denen man auch zukünftig immer die entsprechende Priorität einräumen werde.
Abgesehen von der „chronischen und zunehmenden Unterfinanzierung des ambulanten Sektors“, welche der Backnanger Augenarzt bemängelt, richten sich die Hauptkritikpunkte der Ärzte gegen den stetig zunehmenden Bürokratie- und Dokumentationsaufwand, welcher zusätzlich Kapazitäten abschöpfe. Mit dieser Politik habe man in den vergangenen Jahrzehnten einen Ärztemangel befördert, welcher die Versorgungssituation weiter verschärfe. „Die Bevölkerung wird sich von lieb gewonnenen Gewohnheiten wie rasche Termine, wohnortnahe Facharztversorgung in fast jedem Dorf und Wunscharztwahl verabschieden müssen“, so der besagte Augenarzt. „Die Kräfte der Ärzteschaft reichen nicht mehr in allen Fällen aus, auch noch diese Wohlfühlleistungen zu erbringen, nachdem schon die eigentliche medizinische Versorgung gefährdet ist.“
Die Unterversorgung wird sich zuspitzen
Die Schwierigkeit, einen zeitnahen Facharzttermin zu bekommen, können viele Patienten bestätigen. Bundesweit seien für Augenarzttermine durchschnittlich vier bis sechs Monate üblich, sagt der Backnanger Augenarzt. Bei kardiologischen Terminen seien es bisweilen ein bis zwei Jahre, sagt Jens Steinat.
Der aktuelle Versorgungsbericht der kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) spiegelt die Unterversorgung ebenso wider wie eine Umfrage des Gesundheitsamts des Rems-Murr-Kreises. „55 Hausarztsitze sind im Kreis unbesetzt und rund 30 Prozent der Hausärzte im Kreis haben das 60. Lebensjahr überschritten, im Bereich Backnang sogar knapp 50 Prozent“, heißt es in einer Pressemitteilung des Landratsamts vom November. „Dies wird die medizinische Versorgungslage der Bürgerinnen und Bürger des Rems-Murr-Kreises durch niedergelassene Hausärzte in den nächsten Jahren weiter verschärfen.“
Im Lichte dieser Zahlen warnt Jens Steinat davor, falsche gesellschaftliche Signale zu setzen. „Die Realität bei Ärzten, beim Praxispersonal und auch in der Pflege verläuft völlig konträr zu Tendenzen wie der 35-Stunden-Woche, wie sie etwa von der Gewerkschaft deutscher Lokführer aktuell gefordert wird“, betont er. „Wir werden unseren Wohlstand nur erhalten können, wenn alle etwas mehr arbeiten.“
Unterversorgung Während der Versorgungsgrad bei Fachärzten für den gesamten Landkreis betrachtet wird, wird dieser bei den Hausärzten für sogenannte Mittelbereiche ermittelt. Im Mittelbereich Backnang, der die Städte Backnang und Murrhardt sowie elf Umlandgemeinden umfasst, liegt der Versorgungsgrad aktuell bei 77,6 Prozent. Die Region gilt damit als unterversorgt. Um auf 100 Prozent zu kommen, müssten weitere 14,25 Stellen besetzt werden.
Niederlassungen In der Stadt Backnang gibt es nun aber immerhin ein paar Lichtblicke. Wie der Wirtschaftsbeauftragte Reiner Gauger im Gemeinderat mitteilte, wird zum 1. April 2024 eine neue Hausärztin eine Praxis in der Schillerstraße eröffnen. Drei Ärzte beginnen zum Jahresbeginn als Angestellte in bestehenden Praxen. Mit vier weiteren Medizinern sei man in Gesprächen. „Wir rechnen daher kurzfristig mit einer Verbesserung“, erklärte Gauger.