Den Rollstuhl lieben lernen
Mutmacher-Geschichten: Rainer Heitzmann war ökologischer Stadt- und Landschaftsplaner, er wanderte gerne und werkelte mit Vorliebe im Garten. Ein Aneurysma veränderte sein Leben von heute auf morgen.
Von Renate Schweizer
WEISSACH IM TAL. „Wenn du den Rollstuhl nicht liebst, sind alle Therapien umsonst.“ Den Rollstuhl lieben?! Das ist viel verlangt von einem, der eben noch sein Glück in langen Bergwanderungen fand, in der Gartenarbeit, dem kirchlichen Ehrenamt und bei der Arbeit in seinem Büro für Ökologie und Planung. Heitzmannplan hieß es, dieses Büro, so wie er: Rainer Heitzmann.
Ökologische Stadt- und Landschaftsplanung macht man, indem man auf seinen eigenen Beinen über Stock und Stein im Gelände geht, den Wind spürt (Wo kommt er her? Wie zieht er weiter?), den Boden unter den Füßen wahrnimmt (Sumpfig? Trocken? Stein oder fette Erde?) und schaut: Was wächst hier? Was lebt hier? Was müssen wir unbedingt erhalten? Ökologie und Architektur nicht gegeneinander aufzustellen, sondern in eine gute Balance zu bringen – das war sein Ding. Und nun stattdessen das: Den Rollstuhl lieben. Ein Therapeut sagte ihm das und mehr noch: „Wenn du Fortschritte machen willst, musst du die Situation akzeptieren, so wie sie ist.“
Die Situation, die da zu akzeptieren war, war folgende: Ein Aneurysma am Aortenbogen (Anm. d. Red.: Aussackung der Hauptschlagader des Herzens) drückte aufs Herz und war am Reißen. Es geschah im Büro und nicht irgendwo draußen im Gelände – das war ein Glück. Sein Mitarbeiter erkannte, dass mit ihm so richtig etwas nicht stimmte und rief den Notarzt, auch das war ein Glück.
Jedes noch so kleine Stück Selbstständigkeit ist ein Gewinn.
Der Notarzt fand auch, dass hier so richtig etwas nicht stimmte und schickte ihn sofort ins Katharinenhospital in die Röhre. Von dort ging es weiter direkt in die Sana-Herzklinik, auf den OP-Tisch. Die Operation gelang – ganz großes Glück. „Wenn einer am Herzen operiert wird“, erzählt Rainer Heitzmann, „dann verlegt man den Herzschlag nach draußen. Ich habe ziemlich lange außerhalb meines Körpers gelebt.“
Und dabei geschah etwas, was sehr selten geschieht: Rückenmarksinfarkt. Rainer Heitzmann erwachte aus der Narkose gelähmt vom Nacken bis zu den Zehen und mit schlechter Prognose: „Zwei Jahre können wir Ihrem Papa noch geben“, wurde sein Sohn informiert. Das war gestern vor sieben Jahren.
Und nun also so: Rainer Heitzmann empfängt den Zeitungsbesuch vor dem Wintergarten. Schon auf den paar Schritten ums Haus herum winken Zitrusfrüchte in alten Terrakottatöpfen, chinesische Pfingstrosen und andere Exoten in liebevollen Arrangements und überall dazwischen eingestreut traditionelle Bauerngartenpflanzen und das ganze selbstaussamende Sommerglück, derzeit Akeleien in allen Lila- und Rosatönen – hier wohnt ein Gärtner, ganz klar. Und Gärtner ist er ja auch – das war seine erste Ausbildung.
Er zeigt seinen Indoor-Lebensraum, gemütlich und funktional: Den Wintergarten, den er im Winter mit seinen Pflanzen teilt, die Kraftmaschinen zum Training der Muskulatur, Bücherregale überall, aus allen Fenstern der Blick ins Grüne und ein mächtiger Gong, mit dem er den Raum und sich selbst in Schwingung versetzen kann. Auf dem Weg ins Freie dann die trickreich angebrachte Schnur („eine echte Maria-Hilf-Konstruktion“), mit der er die Tür hinter sich zuziehen kann: Jedes noch so kleine Stück Selbstständigkeit ist ein Gewinn.
Er dockt den Rollstuhl an eine kleine Zugmaschine an („Dieses kleine Ding ist ein Segen – früher musste ich immer meine Frau bitten, mich in den Garten zu schieben.“) und ab geht’s ein paar Fußminuten lang in den „eigentlichen“ Garten, den klassischen Schrebergarten. Unterwegs erzählt er vergnügt, wie viel Spaß die Enkelinnen haben, im Rollstuhl mitzufahren. Die größere hat jetzt das Fahrradfahren gelernt – da wird es demnächst eine Wettfahrt geben, darauf freut er sich schon.
Den Schrebergarten hatten Rainer und Lydia Heitzmann „immer“ schon – aber nie war er so wichtig wie heute. Mit einem guten Dutzend Hochbeeten ist er rollstuhlgerecht und außerdem wild, geordnet, naturnah, wunderschön. Am hinteren Ende gibt es einen kleinen Meditationsgarten („Hier hatten wir vorher einen Teich.“) und am Eingang eine weinumrankte Gartenhütte.
Lydia Heitzmann erwartet uns mit Tee aus Gartenkräutern und er erzählt die Geschichte, wie seine Frau und die Goldrute seine Nieren gerettet haben. „Gut, wenn man eine Frau hat, die nicht so schnell aufgibt. Und eine Familie und Freunde, die unterstützen. Und die Naturheilkunde. Und die Musik und die Philosophie und den Glauben.“
Einmal pro Woche fahren die beiden miteinander nach Tübingen, zu einer speziellen Therapie in der BG-Klinik. Die klassischen neurologischen Therapien finden im Gesundheitszentrum in Backnang statt. „Das eigentliche Wunder – wenn man überhaupt unbedingt von Wunder sprechen will“, meint Rainer Heitzmann nachdenklich, „ist nicht, dass sie eine Prognose nach der anderen korrigieren mussten. Das Wunderbare ist, dass tatsächlich stimmt, was ich immer geglaubt habe und seit 60 Jahren anfangs in der Jugendarbeit, später im Prädikantenamt der Evangelischen Landeskirche gepredigt habe: Dass ich getragen bin und in Gottes Hand. In guten Tagen kann man das leicht predigen – aber in den schlechten Tagen hat es sich als wahr herausgestellt. Dass man innere Freiheit haben kann und aus der Fülle leben, auch wenn man im Rollstuhl sitzt.“ Dann redet er weiter über seine prächtigen Kartoffeln und das Schäufelchen Kompost, das er in jedes Pflanzloch gibt.
In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.