Der Personalmangel zieht sich im Rems-Murr-Kreis durch alle Branchen
Jedes dritte Unternehmen in Baden-Württemberg bezeichnet den Personalmangel mittlerweile als größte Bedrohung. Dabei geht es nicht mehr allein um Fachkräfte, sondern auch um reine Quantität. Die Unternehmen im Rems-Murr-Kreis stehen vor enormen Herausforderungen.

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Bei den Pflegeberufen macht sich der Personalmangel im Kreis besonders bemerkbar. Symboldbild: Adobe Stock/Halfpoint
Von Kai Wieland
Rems-Murr. Auf den ersten Blick prägten zuletzt vor allem die Corona- und die Energiekrise die deutsche Wirtschaft, doch in deren Windschatten hat sich eine lange bekannte, aber deshalb nicht weniger bedrohliche Entwicklung weiter verschärft. „Es ist das Thema überhaupt für die Unternehmen im Kreis“, bestätigt Markus Beier, leitender Geschäftsführer der Bezirkskammer Rems-Murr in der IHK-Region Stuttgart. Dreimal jährlich führt die IHK Konjunkturumfragen bei den hier ansässigen Unternehmen durch und es zeigt sich: Der Personalmangel ist unter den wahrgenommenen Risiken wieder auf Platz eins angelangt.
„Wir haben inzwischen die nächste Stufe erreicht“, mahnt Beier. „Über den Fachkräftemangel wurde lange geredet, inzwischen müssen wir aber wirklich von einem Arbeitskräftemangel sprechen. Es fehlt nicht nur an Fachkräften, sondern rein zahlenmäßig an Personal in fast allen Bereichen.“
Einige Branchen sind stärker betroffen, aber kaum eine bleibt völlig verschont
Diese düstere Feststellung wird von den Zahlen der Agentur für Arbeit Waiblingen untermauert. „Im Rems-Murr-Kreis sind dieselben Entwicklungen zu erkennen wie auf Landes- und Bundesebene“, erklärt Pressesprecherin Isa Herrmann. „Besonders betroffen sind auch hier bei uns die Bereiche Erziehung und Unterricht, Sozialarbeit, Pflege und allgemein Gesundheit, Gastronomie, IT sowie Handwerk und Bau. Aber auch in allen anderen Branchen fehlt es an Personal, sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Ausbildungsplätzen.“
Ein gewichtiger Faktor bei dieser Entwicklung ist der demografische Wandel, der sich in den kommenden Jahren, wenn die Generation der sogenannten Babyboomer nach und nach ins Rentenalter eintritt, weiter verschärfen wird. Auch andere Aspekte könnten dabei allerdings eine Rolle spielen, gibt Markus Beier zu bedenken, etwa ein größerer Anteil an Teilzeitarbeitsverhältnissen und damit einhergehend eine geringere Pro-Kopf-Arbeitszeit. „Es gibt offenbar einen Wandel im Denken der Menschen und damit muss ein Umgang gefunden werden“, sagt Beier.
Investitionen in die Ausbildung sind wichtig
Für die Unternehmen selbst gebe es verschiedene Strategien, um die Personalsituation zu entspannen. „Wir legen den Firmen insbesondere nahe, in die Ausbildung zu investieren und die Zahl der Ausbildungsplätze möglichst hochzuhalten“, sagt Beier. Das sei für viele Unternehmen das vielversprechendste und wirkungsvollste Instrument, das zur Verfügung stehe, wobei einige Branchen auch damit zu kämpfen hätten, von jungen Menschen überhaupt als attraktiv wahrgenommen zu werden.
Ein zweiter Ansatzpunkt ist die Automatisierung und Digitalisierung von Prozessen, sodass überhaupt weniger Personal benötigt wird. „Es gibt schon jetzt die Praxis, etwa für die Wartung von Maschinen keinen Mitarbeiter zum jeweiligem Standort zu schicken, sondern stattdessen eine Person vor Ort mithilfe einer Augmented-Reality-Brille anzuleiten.“ Auch im Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die derzeit ohnehin in aller Munde ist, liege ein enormes Potenzial für Rationalisierung.
Schließlich bleibe als letzter Notnagel noch die Reduzierung von Angeboten und Öffnungszeiten, ergänzt Markus Beier. „Das ist aber natürlich die schlechteste Lösung für alle Beteiligten.“
Die Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland birgt bürokratische Hürden
Die häufig angeführte Zuwanderung von Fachkräften sei auch eine Chance, allerdings kein Allheilmittel, fährt Beier fort. „Vor allem für kleinere Unternehmen ist die Umsetzung schwierig, weil es sich um einen komplizierten bürokratischen Prozess handelt.“ Die IHK sei allerdings im Austausch mit der Politik und unterbreite dieser Vorschläge für beschleunigte Verfahren.
Ginge es nach Alexander Flint, Betreiber des Seniorenheims Kronenhof in Großerlach, wäre dies längst umgesetzt. Der Pflegebereich gehört zu den Branchen, in welchen der Personalmangel besonders spürbar ist – ein Umstand, der auch auf dem ersten Pflegegipfel des Kreises im Backnanger Bürgerhaus im Juni deutlich adressiert wurde. Alexander Flint kann davon ein Lied singen: „Die Suche ist mittlerweile eine Katastrophe. Während wir in der Vergangenheit sechs bis acht Wochen brauchten, um eine Stelle zu besetzen, sind wir mittlerweile froh, wenn wir nach einem halben Jahr jemanden haben.“ Dabei hätte er eine ganze Reihe fähiger Leute an der Hand, deren Qualifikation aber seitens der Behörden nicht anerkannt werde. „Ich mache diesen Job seit 30 Jahren und sehe auf den ersten Blick, ob jemand sein Handwerk beherrscht. Eine unserer Mitarbeiterinnen kommt aus Syrien und bringt fachlich alles mit, bekommt aber ständig neue bürokratische Hürden in den Weg gelegt. Und solche Fälle haben wir viele“, ärgert sich der Heimbetreiber. „Das ist ein ganz großer Hemmschuh, der leicht zu beheben wäre.“
Ein großes Problem ist der Azubibedarf
Der Personaldruck bei den Unternehmen führt indessen auch bei der Agentur für Arbeit zu mehr Anfragen im Arbeitgeberservice. „Vor allem kleine und Kleinstunternehmen, die über keine großen Personalabteilungen verfügen, nehmen unsere Beratungsangebote in Anspruch“, erklärt Isa Herrmann. „Ein ganz großes Thema ist dabei der Azubibedarf.“
Mit verschiedenen Stellschrauben wie dem Programm „Direkteinstieg Kita“, in welchem sich Quereinsteiger zur sozialpädagogischen Assistenz schulen lassen können, oder Ausbildungsprojekten versucht auch die Agentur für Arbeit, dem Personalmangel etwa im Kita-Bereich (wir berichteten) entgegenzuwirken, doch das Problem ist komplex: Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen stehen dabei in einer Wechselwirkung zueinander. Bei den Unternehmen im Kreis wird daher Reaktionsfähigkeit und Kreativität gefragt sein.
Fachkräftemonitor Der Fachkräftemonitor analysiert den Fachkräftemangel in 93 Berufsgruppen und 19 Wirtschaftszweigen in den zwölf Regionen Baden-Württembergs und stellt Prognosen für die Zukunft auf.
Situation heute Laut Konjunkturumfragen der IHK sieht bereits heute jedes dritte Unternehmen in Baden-Württemberg den Fachkräftemangel als größte Bedrohung. Durch die Coronakrise sank die Fachkräftenachfrage zwar vorübergehend, wodurch es bei den ausgebildeten Fachkräften 2020 und 2021 zu einem Überschuss von bis zu 116000 Gesellen kam, doch trotz verringerter Nachfrage fehlen laut Fachkräftemonitor weiterhin 26.000 Akademiker sowie 64.000 betrieblich weitergebildete Fachleute (Meister, Techniker, Fachkaufleute).
Prognosen für das Jahr 2035 Demografiebedingt befindet sich das Fachkräfteangebot auf einem Schrumpfkurs, sodass bis 2035 die Zahl der Fachkräfte laut Prognosen um 1.231.000 beziehungsweise um knapp 30 Prozent abnimmt. Im selben Zeitraum fehlen der Wirtschaft demnach pro Jahr durchschnittlich über 397.000 Fachkräfte. Werden keine zusätzlichen Fachkräftepotenziale erschlossen, wird durch den demografieschen Effekt der Fachkräfteengpass in der Spitze auf 863.000 Personen im Jahr 2035 ansteigen. Insbesondere das Angebot an Meistern, Fachwirten, Technikern und Fachkaufleuten wird demnach um bis zu 31 Prozent hinter der Nachfrage zurückbleiben.