Die gebeutelte S-Bahn-Linie 4
Schienenersatzverkehr, Langsamfahrstelle und sonstige Schikanen – Fahrgäste aus dem Einzugsgebiet der S-4-Verlängerung zwischen Backnang und Marbach am Neckar haben regelmäßig das Gefühl, auf dem Abstellgleis zu stehen. Nun kam auch noch eine mögliche Anschlagsserie dazu.
Von Kai Wieland
Rems-Murr. „Wer mit der neuen S4 von Backnang nach Ludwigsburg fährt, ist künftig nur noch 33 Minuten statt wie bisher knapp eine Stunde unterwegs“, vermeldete das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg im Dezember 2012 in einer Pressemitteilung voller Euphorie. „Davon können etwa 80000 Einwohner im Einzugsbereich der S-4-Verlängerung profitieren.“
Dagegen ist wenig einzuwenden, die Vorteile des Ringschlusses für die Anrainergemeinden Kirchberg an der Murr, Burgstetten, Erdmannhausen und auch Backnang selbst liegen auf der Hand – sofern die Bahn denn auch tatsächlich fährt. Das rund elf Millionen teure Projekt, dessen Kosten sich das Land (6,5 Millionen Euro), der Verband Region Stuttgart (3,1 Millionen Euro), der Rems-Murr-Kreis (830000 Euro) und der Landkreis Ludwigsburg (550000 Euro) damals teilten, stand in seiner noch jungen Geschichte nämlich zumeist unter keinem günstigen Stern: Im August 2014 entgleiste kurz nach dem Bahnhof Burgstall in Fahrtrichtung Stuttgart ein Güterzugwaggon und wurde anschließend noch zwei Kilometer weitergezogen, was zu massiven Schäden im Gleisbereich und an den Oberleitungen führte. Zwei Jahre später, im September 2016, wurde die S-Bahn-Brücke über die B14 von einem Lkw-Gespann mit einem geladenen Bagger beschädigt und musste abgebrochen werden, sodass monatelang keine S4 mehr bis Backnang verkehrte. Zu solch folgenschweren Vorfällen kam es zwar seitdem nicht mehr, doch die S4 bereitet weiterhin Kopfzerbrechen.
Eine Linie ohne Priorität?
„Haben denn die Anliegergemeinden keine Lobby?“, fragte Gudrun Wilhelm aus Kirchberg, die sich im Kreistag für die Belange der Anrainergemeinden der S4 einsetzt, unlängst in einem Brief an Landrat Richard Sigel. Damit dürfte sie so manchem Bahnpendler aus Burgstetten, Kirchberg oder Erdmannhausen aus der Seele sprechen, der ein ums andere Mal das Gefühl hat, im Zweifelsfall dem ordnungsgemäßen Betrieb anderer Linien geopfert zu werden. Auch Gudrun Wilhelm ist der Ansicht, dass die Raumschaft entlang der S4 regelmäßig über Gebühr gebeutelt wird.
Natürlich waren die vergangenen Monate für Bahnreisende aus dem Rems-Murr-Kreis im Allgemeinen nicht vergnügungssteuerpflichtig: Im Frühjahr und im Sommer führten die Arbeiten am digitalen Knoten Stuttgart zu mehrmonatigen Sperrungen zwischen Waiblingen und Bad Cannstatt, während der Sommerferien folgte die obligatorische Stammstreckensperrung zwischen dem Hauptbahnhof und Vaihingen.
Die Auswirkungen auf die S-4-Verlängerung waren dennoch auffällig, denn in aller Regelmäßigkeit hieß und heißt es dort seitdem: Schienenersatzverkehr zwischen Backnang und Marbach. Und das obwohl auf der Strecke selbst zumeist gar keine Bauarbeiten stattfanden. Ursache dafür war vielmehr die Umleitung eines Teils der Regionalzüge über die sogenannte kleine Murrbahn mit Zusatzhalt in Marbach, was im Zusammenspiel mit der eingleisigen Strecke in diesem Abschnitt den zusätzlichen Betrieb der S4 laut Deutscher Bahn aus Kapazitätsgründen ausschloss – eine Maßnahme, auf die des Öfteren zurückgegriffen wird, zuletzt in der vergangenen Woche aufgrund von Arbeiten im Bereich Bad Cannstatt/Untertürkheim.
Nicht nur der Schienenersatzverkehr wird bemängelt
Da die Einschränkungen auf der S-4-Verlängerung einen vergleichsweise überschaubaren Einzugsbereich betreffen, übersteigt der Nutzen dieser Maßnahme offenbar regelmäßig deren Kosten, obwohl der Schienenersatzverkehr in den Anrainergemeinden keineswegs als zufriedenstellend erlebt wird. „Die Busse verlieren grundsätzlich Zeit in den Ortsdurchfahrten. Da fehlen dann zwei oder drei Minuten und schon ist der Anschluss weg“, erklärt Gudrun Wilhelm. „Daran lässt sich aber auch nur sehr schwer etwas ändern, das sind einfach die beengten Verhältnisse in den Orten.“
Es ist allerdings nicht allein der Schienenersatzverkehr, den Gudrun Wilhelm bemängelt. Überhaupt seien es die drei Anrainergemeinden Burgstetten, Kirchberg und Erdmannhausen, die sich ständig mit einem reduzierten Angebot abfinden müssten. Auch der spätabendliche Stundentakt zwischen Backnang und Marbach, während zwischen Marbach und Stuttgart weiterhin halbstündig gefahren wird, sei ihr ein Dorn im Auge, sagt Wilhelm. „In Stuttgart wird über den Zehnminutentakt geredet, aber hier auf dem Land, in der Fläche, ist man davon weit entfernt.“ Viele Bahnreisende wählten daher eine frühere Verbindung, um sicher rechtzeitig anzukommen – auf lange Sicht werde damit die Wirtschaftlichkeit der Bahn geschädigt, findet Wilhelm. „Und wenn man dann schon lange warten muss, sucht man an den Bahnhöfen auch noch vergeblich nach einer Toilette.“
Nach Ende der Sperrungen bei Waiblingen verkehrte die S4 ab Ende Juli zwar wieder regulär von Backnang nach Marbach, allerdings folgte sogleich die nächste Hiobsbotschaft: Zwischen Backnang und Kirchberg fuhren die Bahnen mit deutlich gedrosseltem Tempo, was Verspätungen und wiederum verpasste Zugverbindungen zur Folge hatte. Mit Hinweis auf die „anspruchsvolle Topografie und die hohe Belastung auf dieser Strecke durch viele enge Bögen“ hatte die Deutsche Bahn die Notwendigkeit von sogenannten Stopfarbeiten begründet, welche allerdings erst möglich seien, wenn die Temperaturen für einen längeren Zeitraum deutlich unter 30 Grad lägen. Laut einer Sprecherin der Deutschen Bahn wurden diese Arbeiten Ende September ausgeführt.
Instandhaltungsarbeiten im November
Die nächsten Sperrungen stehen dessen ungeachtet bereits vor der Tür. Bei diesen handle es sich „um eine reguläre, langfristig geplante Instandhaltung der Infrastruktur“, heißt es von der Sprecherin des Unternehmens weiter. Dabei würden zum Beispiel Gleise, Schwellen und Schotter überall dort, wo es notwendig ist, getauscht. Vom 11. November (2 Uhr) bis 20. November (Betriebsschluss) werden daher laut VVS und Deutscher Bahn zwischen Backnang und Marbach Sanierungsarbeiten an der sogenannten kleinen Murrbahn durchgeführt. Zwischen Backnang und Marbach werden dann einmal mehr SEV-Busse unterwegs sein. Dasselbe gilt für den Zeitraum von 2. Dezember (4 Uhr) bis 3. Dezember (20 Uhr). Dazwischen, von 21. November bis 29. November, verkehrt die S4 gar nur zwischen Schwabstraße und Ludwigsburg. Auch zwischen Marbach und Ludwigsburg ist dann Schienenersatzverkehr vorgesehen.
Sind Serientäter am Werk?
Für ein zusätzliches Ärgernis, welches die Bahnreisenden auf der kleinen Murrbahn zuletzt heimsuchte, kann die Deutsche Bahn zumindest in der Entstehung herzlich wenig. Eine mögliche Anschlagsserie auf die Strecke sorgte den Oktober hindurch immer wieder für gefährliche Bremsungen und lange Verzögerungen. Unbekannte Täter, möglicherweise immer dieselben, legten im Raum Ludwigsburg mehrfach Gegenstände wie Fahrräder und E-Roller auf die Gleise. Kritisiert wurde jedoch der Umgang der Deutschen Bahn mit den Vorfällen. Insbesondere der mehrstündige Zwangsaufenthalt von Passagieren in einer S4 zwischen Favoritepark und Freiberg am Neckar Mitte Oktober hatte einen Aufschrei zur Folge. Das Unternehmen hat sich für den Vorfall bei den Fahrgästen entschuldigt. Zuletzt ist auf der Strecke offenbar wieder Ruhe eingekehrt. Zum Stand der Ermittlungen, welche die Bundespolizei übernommen hat, gibt es jedoch noch keine neuen Erkenntnisse. Die Deutsche Bahn warnt indessen, dass das mutwillige Ablegen von Gegenständen im Gleisbereich nicht nur für die Täter lebensgefährlich sei, sondern auch die Sicherheit der Mitarbeiter und Fahrgäste gefährde und entsprechend verfolgt werde.
Vor allem für die Fahrgäste ist zu hoffen, dass der Spuk auf der Strecke damit ein Ende hat. Auch dann bleibt jedoch einiges zu tun, damit die S-4-Verlängerung ihr Versprechen von 2012 zuverlässig einlöst.