Ein Klinikseelsorger des Rems-Murr-Klinikums Winnenden erzählt von seinem Alltag
Thomas Blazek ist katholischer Seelsorger am Rems-Murr-Klinikum Winnenden. Vor allem in der Onkologie und auf der Palliativstation ist er unterwegs. In manchen Gesprächen, sagt er, brechen ganze Lebensgeschichten auf.
Herr Blazek, aus welchem Grund sind Sie Seelsorger am Klinikum geworden?
Ich habe festgestellt, dass es für mich ein beruflicher Gewinn ist, mich mit den Krisensituationen des Lebens zu beschäftigen. Mit Krankheit, Sterben, Trauer. Für uns Krankenhausseelsorger ist der unmittelbare seelsorgerliche Kontakt mit Menschen in einem Ausmaß möglich, wie er sonst im Gemeindealltag meistens nicht möglich ist.
Wie sieht Ihr Berufsalltag aus?
Es gibt einige Termine, die gesetzt sind – Teambesprechungen zum Beispiel, Termine mit dem Dekanat, meinem Dienstgeber, oder unsere Andachten in der Krankenhauskapelle am Mittwochabend. Abgesehen davon ist der Alltag ein sehr offener. Es gibt viele Tage, da habe ich sicher das eine oder andere als Spur im Kopf, weiß aber im Grunde genommen bis zum Abend nicht, wo ich im Krankenhaus überall unterwegs sein werde. Denn ich komme in der Regel auf Anforderung durch die Stationsstützpunkte, die Angehörigen oder auch sie selbst zu den Patientinnen und Patienten.
Wer nimmt Ihre Dienste in Anspruch? Suchen vor allem Menschen in lebensbedrohlichen Situationen den Kontakt?
Krankheiten und Krankenhausaufenthalte sind immer Krisensituationen. Da lässt sich keine Hierarchie von emotionaler Belastung aufstellen. Eine Blinddarmoperation kann dieselbe Not auslösen wie eine lebensbedrohliche Erkrankung. Wenn die Lebendigkeit beeinträchtigt ist – in welcher Form auch immer –, ist das im Grunde genommen eine Todeserfahrung. Und die kann ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen.
Welche Reaktionen sind das?
Die einen haben überhaupt keinen Bedarf an einer seelsorgerlichen Begleitung. Bei anderen bricht quasi die Welt aus den Fugen. Die meisten Gespräche setzen tatsächlich bei dieser emotionalen Befindlichkeit an. Bei der Angst, bei Ohnmachtserfahrungen. Damit umgehen zu müssen, mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert zu sein.
Wie beginnen Sie ein Gespräch, wenn Sie jemanden zum ersten Mal treffen?
Es gibt zwei Varianten. Wenn ich angefordert wurde, stelle ich mich einfach vor: „Guten Morgen, Thomas Blazek von der Seelsorge. Sie haben mich rufen lassen“, zum Beispiel. Dann muss ich schauen, was kommt. Die zweite Variante ist, dass ich proaktiv in ein Krankenzimmer gehe. Da sondiere erst mal: Hat der Patient oder die Patientin überhaupt Interesse an einem Kontakt? Es kommt immer wieder vor, dass jemand von vornherein sagt: „Mit der Kirche will ich nichts zu tun haben!“ Das ist in Ordnung. Ich biete meine Hilfe stets nur an.
Welche Rolle spielt der Glaube denn generell in Ihren Gesprächen?
Wenn Glaubensüberzeugungen da sind, kann die Unterhaltung in ein geistliches Gespräch münden. Dabei geht es nicht darum, jemandem bestimmte Glaubenswahrheiten überzustülpen. Ich stelle eher Fragen wie: „Was glauben Sie eigentlich?“ „Wie ist Ihre Gottesbeziehung?“ Oft kommen wir im Gespräch zu einem Gebet – und sei es nur ein Segenswunsch zum Abschluss. Oder zu einem Psalm, den wir gemeinsam beten oder den ich vortrage. Aber das muss passen beim Patienten. Nicht jedes seelsorgerliche Gespräch endet mit einem Gebet.
Nehmen auch Menschen, die nicht gläubig sind oder die einem anderen Glauben anhängen, Ihre Hilfe an?
Ja, das kommt häufig vor. Ich hatte zum Beispiel schon sehr bereichernde Glaubensgespräche mit muslimischen Patienten. Grundsätzlich würde ich sagen: Menschen in Krisensituationen, die einen Glaubenshintergrund haben, tun sich – völlig unabhängig von Konfession und Kirchenzugehörigkeit – leichter, die Seelsorge zu rufen.
Sind das eher Ältere oder Jüngere?
Ich habe tatsächlich viel mit älteren und alten Menschen zu tun, weil es im fortgeschrittenen Alter einfach öfter zu schweren Krankheiten kommt. Es kommen aber auch regelmäßig Anforderungen von jüngeren oder gar jungen Menschen. Von 20-, 30-Jährigen, die durch einen Unfall oder eine Erkrankung aus dem vollen Leben gerissen wurden und möglicherweise zum ersten Mal erfahren müssen, dass nicht immer alles glatt läuft. Ältere haben häufig schon Abschiede hinter sich. Sie haben Sterbe- und Trauerprozesse erlebt und ein Handwerkszeug entwickelt, mit dem sie sich selber stabilisieren können. Bei Jüngeren geht es oft darum, dass wieder eine Perspektive gefunden werden kann.
Ist das gewissermaßen das Ziel Ihrer Gespräche: die Möglichkeiten auszuloten, mit denen man – in dem Rahmen, der einem zur Verfügung steht, – das eigene Leben wieder annehmen kann?
Genau. Es geht darum, in eine Akzeptanz zu kommen und in dem Maße, wie es noch möglich ist, das Leben gestalten zu können.
Und sind es mehr Männer oder mehr Frauen, die nach Unterstützung fragen?
Männer tun sich schwerer. Das hängt sicherlich auch mit gesellschaftlichen Prägungen zusammen. Mit Sprüchen wie: „Indianer kennen keinen Schmerz.“ Sehr bewegend sind oft Gespräche mit Männern in vorgerücktem Alter, die sich plötzlich öffnen und sagen: „Darüber habe ich noch mit niemandem gesprochen.“ Da brechen manchmal ganze Lebensgeschichten auf.
So etwas passiert wahrscheinlich nicht schon nach 20 Minuten. Wie viel Zeit nehmen Sie sich für jedes Gespräch?
Es gibt kein Zeitlimit. Die Gespräche dauern so lange, wie sie dauern. Eine Unterhaltung kann schon mal eine Stunde dauern, das Folgegespräch dagegen nur zehn Minuten. Der Vorteil, den wir Krankenhausseelsorger haben, ist ja: Wir sind in keinen Dienstplan eingebunden. Es gibt natürlich Tage, an denen wir es nicht schaffen, alle zu besuchen. Manchmal wird ein Gespräch auch unterbrochen durch einen Notruf, zum Beispiel wenn es zu einer Sterbesituation kommt. Aber wir können später wieder anknüpfen. Auch die Begleitung ist unterschiedlich lang: vom einzelnen Gespräch bis hin zur mehrwöchigen Betreuung.
Das heißt, manche Patientinnen und Patienten kennen Sie schon länger.
Ja. Gerade in meinem Zuständigkeitsbereich – Onkologie und Palliativstation – begegne ich immer wieder Patientinnen und Patienten, zu denen ich schon einmal Kontakt hatte. Das gilt auch für die Angehörigen, mit denen ich häufig Begleitgespräche führe.
Wie sehr belasten Sie die Schicksale?
Mich berührt, was ich von den Patientinnen und Patienten erfahre. Wichtig ist, dass ich das, was ich hier höre, auch hier lasse, im Krankenhaus. Das gelingt nicht immer. Wenn mich Gespräche besonders beschäftigen, versuche ich, mir bewusst zu machen: Was triggert mich? Oft sind es Geschichten, die Parallelen zu meinem Leben haben. Da gibt es durchaus Momente, die mir an die Nieren gehen und in denen ich merke: Hoppla, da könnte ich jetzt mitweinen.
Wie gehen Sie damit um?
Hin und wieder muss ich bewusst loslassen und mir sagen: Das ist die Last meines Gesprächspartners. Die kann ich nicht auch noch in meinen Rucksack nehmen. Manchmal nutze ich auch die Wirkung der Krankenhauskapelle, um wieder zurück ins Gleichgewicht zu kommen. Wenn ich von einem schweren Gespräch komme, lege ich mich dort fünf Minuten auf die Bank und atme durch.
Gibt es Momente, in denen Sie nicht wissen, was Sie noch sagen können?
Die gibt es. Und die muss ich aushalten. Bei Sterbenden etwa kann ich ja nichts mehr tun. Aber es wäre falsch, Seelsorge nur als Reden zu verstehen. Es gibt Situationen, da schweige ich mit den Patientinnen und Patienten. Da ist es vielleicht wichtiger, einfach da zu sein, eine Hand zu halten. Am Bett von Sterbenden etwa sind Gespräche oft gar nicht mehr möglich. Und da kann es durchaus sein, dass – wenn ich weiß, da ist eine Gläubigkeit, eine Gottesbeziehung da, – ich einfach nur einen Psalm vorspreche.
Haben Sie selbst eine Supervision, eine regelmäßige Betreuung durch einen Psychologen oder eine Psychologin?
Ich habe zwei Möglichkeiten der Supervision. Zum einen eine dienstliche über meinen Dienstgeber. Die habe ich im Moment allerdings zurückgestellt, um nicht in zu vielen Supervisionsprozessen zu sein. Ich bin auch in die Supervision der Palliativstation und in die der Notfallseelsorge eingebunden.
Wurde Ihr Glaube im Lauf der Jahre schon auf die Probe gestellt?
Ja. Durch zu hohe Arbeitsbelastung hatte ich eine Krisenphase. Das war so 2009, 2010 oder 2011. In der Zeit war ich auch gesundheitlich angegriffen und habe gemerkt, ich komme an Grenzen oder habe diese schon überschritten. Damit hat für mich ein Prozess der Selbstachtsamkeit angefangen. Ich habe gelernt, nicht nur zu funktionieren und zu produzieren, sondern mich selbst auch nicht aus dem Blick zu verlieren.
Hat diese Erfahrung Ihnen geholfen, noch besser zu verstehen, wie es Ihren Patientinnen und Patienten ergeht?
Auf jeden Fall. Ich kenne Ohnmachtserfahrungen. Ich kenne Momente der Verzweiflung und das Gefühl, nicht mehr drüber raussehen zu können, keine Orientierung zu haben. Haltlosigkeit, Hilflosigkeit.
Gibt es auch schöne Momente, die Sie mit Patientinnen und Patienten teilen?
Definitiv. Da denke ich gleich an den Grundsatz der Palliativarbeit: „Wir geben dem Leben nicht mehr Tage, aber wir geben den Tagen mehr Leben.“ Natürlich ist da bei vielen ist das Bewusstsein: „Ich nähere mich meinem Ende.“ Und natürlich sind da tragische Situationen, die Verzweiflung der Patienten selbst oder der Angehörigen. Aber wenn die Krankheitssituation und die psychischen Belastungen als Bestandteil des Lebens akzeptiert werden, dann kann auch wieder gelacht werden. Dann ist Raum für Humor oder für lustige Sprüche.
Bereichern Sie die Gespräche auch?
Auf jeden Fall. Ich erlebe das als Geschenk, diese Lebensgeschichten hören zu dürfen, Lebensfülle zu erfahren – an belastenden, aber auch an frohen, an glücklich machenden Momenten. Wenn es aufs Sterben zugeht, passiert es oft, dass Menschen eine gewisse Lebensbilanz ziehen. Dass sie sich fragen: „Habe ich ein gutes Leben gelebt?“ Und es ist immer super, wenn Patientinnen und Patienten sagen: „Ich würde es wieder so machen.“ Das ist ja auch ganz wichtig, ein Stück weit versöhnt mit der eigenen Lebensgeschichte dem Sterben entgegenzugehen. Und daran teilhaben zu dürfen, diesen Stolz mitzuerleben – das ist bereichernd.
Das Gespräch führte Melanie Maier.
Vita Geboren wurde Thomas Blazek am 11. Mai 1964 in Bad Cannstatt. Aufgewachsen ist er in Fellbach-Oeffingen. Mittlerweile lebt er in Auenwald.
Karriere Schon als Jugendlicher engagierte sich Blazek in der Jugendarbeit der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) und war im Diözesanverband aktiv. Von 1987 bis 1994 studierte er Theologie in Tübingen. Ein Auswärtssemester absolvierte er in Trier. Dort legte er ab 1994 auch seine pastoralpraktische Ausbildung ab. 1996 bekam er die erste Festanstellung als Pastoralreferent in Cochem an der Mosel. 2005 wechselte er in die Seelsorgeeinheit Weissacher Tal. 18 Jahre lang war er dort als Pastoralreferent tätig. 2020/21 machte er eine Zusatzausbildung zum geistlichen Begleiter. Seit Juli 2022 ist er katholischer Seelsorger am Rems-Murr-Klinikum in Winnenden.
Privates Blazek ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Einen Ausgleich von seiner Arbeit erfährt er in den Gesprächen mit seiner Familie, in der Meditation, der Schriftbetrachtung und beim handwerklichen Arbeiten im Haus und im Garten.