Ein Leben lang immer Chancen gesucht
Mutmacher-Geschichten: Turgay Güngormus kam mit elf Jahren ohne Deutschkenntnisse als Kind türkischer Gastarbeiter nach Oppenweiler und arbeitete sich mit Fleiß und Geschick als Geschäftsführer vieler Unternehmen bis zum CFO bei Höfliger hoch.
Von Matthias Nothstein
ALLMERSBACH IM TAL/OPPENWEILER. Als Turgay Güngormus 1972 nach Deutschland kommt, sind seine Perspektiven alles andere als rosig. Der Elfjährige, der kein Wort Deutsch spricht, muss sich von seinen geliebten Großeltern trennen und folgt mehr oder weniger freiwillig seinen Eltern nach, die seit einigen Jahren als Gastarbeiter im fernen Schwabenland ihr Geld verdienen. Die Unterkunft würde heute wahrscheinlich als prekär bezeichnet werden. Über einer Gaststätte im Oppenweiler Teilort Oberer Reichenberg wohnt die fünfköpfige Familie in einer beengten Wohnung, die Toilette auf dem Flur. Später ziehen die fünf nach Jux.
Heute, knapp 50 Jahre später, ist Güngormus nicht nur Chief Financial Officer (CFO) der Harro Höfliger GmbH, einem der erfolgreichsten und größten Unternehmen in der Region. Als Chef der Finanzen, Organisation und Verwaltung genießt er in dieser Position wie bei all seinen früheren Posten auch das höchste Ansehen bei seinem Aufsichtsrat und den Mitarbeitern. Dass er sich dies hart erarbeiten musste, zeigt ein Blick auf den zwar geradlinigen, bei Weitem aber nicht langweiligen Werdegang des 60-Jährigen.
In der Zeit, als der kleine Turgay in Istanbul die Schulbank drückt, ist die Welt noch in Ordnung. Fünf Jahre lang hat er überall die Bestnote 1,0. In der Schule in Sulzbach an der Murr steht dann zwei Jahre lang nur „hat teilgenommen“ im Zeugnis. Doch der Ehrgeiz und Fleiß des Knaben sind unbändig. Stets hat er auf der einen Seite das Lehrbuch und auf der anderen Seite das Übersetzungsbuch. Anfangs macht sich der Junge mit Händen und Füßen verständlich. Aber: „Nach drei Monaten konnte ich mich schon gut unterhalten und nach sechs Monaten fließend Deutsch sprechen.“ Auch weil er viele gute Freunde findet.
Nach der Schulzeit lernt er Elektroinstallateur bei Radio Burgel in Backnang. Im Laufe seines Berufslebens nur eine von etlichen Stationen. Mehrfach kündigt er, weil ihn Neues reizt oder er sich nicht weiterentwickeln kann. Er sagt über sich: „Ich habe immer gesucht, wo ist die nächste Chance. Einfach ein ,weiter so‘ war nie mein Ding. Man muss die Chancen auch suchen, nur dann kann man sie finden.“ Nach Burgel und Kerres arbeitet er eine Zeit lang bei Dittfurth Expert. Die Eltern und die beiden jüngeren Schwestern leben da schon wieder in der Türkei.
„Mich hat die schlechtere Bezahlung nicht gestört. Mir hat gefallen, wie der Mann aufgetreten ist.“
Eines Tages will ein Mitarbeiter der Kopiervertrieb Stuttgart (KVS) GmbH während der Mittagspause im „Löwen“ einen Kollegen abwerben. Dieser lehnt sofort ab, weil ihm das Angebot zu schlecht ist. Doch Güngormus tickt anders: „Mich hat das nicht gestört. Mir hat vielmehr gefallen, wie der Mann aufgetreten ist. Ich habe ihn abends angerufen und gefragt, ob ich einen Tag als Büromaschinenmechaniker Probe arbeiten könnte. Es ging mir um die Perspektive. Wo kann ich mich weiterentwickeln?“ Dem jungen Mann gefiel die Aussicht, in einer anderen Branche noch einmal Neues kennenzulernen. Er bekommt den Job und arbeitet künftig mit Kopierern statt mit Waschmaschinen oder Backöfen.
Es dauert nicht lange, bis der clevere Mitarbeiter seinem Chef auffällt. Die Aufforderung, in den Verkauf zu gehen, will Güngormus ablehnen. „Ich kann nicht verkaufen, ich bin ein Techniker.“ Doch sein Boss hat einen Blick für seine Qualitäten und das überdurchschnittliche Talent. Er entgegnete: „Ha doch, Sie können das. Sie sind einfühlsam, Sie kennen die Technik sehr gut, Sie sind eloquent und fleißig. Sie schaffen das.“
Der Neue schlägt im Vertrieb sofort richtig ein. „Ich habe das Doppelte verkauft wie die Seniorverkäufer, sogar gleich im ersten Monat.“ Die Ansage des Chefs lautet: „Wenn Sie das drei Monate durchhalten, kriegen Sie einen Mercedes als Geschäftsauto.“ Drei Monate später fährt das einstige Gastarbeiterkind seinen ersten Daimler. Schnell wird er Vertriebsleiter, baut eine neue Mannschaft auf, gründet Filialen. Das Versprechen, ihn zum Geschäftsführer zu machen, kann sein Ziehvater nicht halten, weil er seine Firma verkauft hat. Im neuen Konzern nur ein kleines Rädchen sein – das will Güngormus nicht, er kündigt und macht sich in Rommelshausen mit der Firma Bürotechnik Service selbstständig. Der Erfolg gibt dem Visionär recht. Schon nach sechs Monaten will der Konzern auch seine Firma kaufen. Dieses Mal ist es Güngormus, der zustimmt, mit dem Unterschied, dass er nun Geschäftsführer bleibt. Der Konzern, ursprünglich von fünf Finanzdirektoren gegründet, die mit Risikokapital Hunderte Firmen zusammen kaufen, darunter für eine Mark Triumpf-Adler, des Namens wegen, er wächst und wächst. „Wir hatten über eine Milliarde Umsatz in Deutschland.“ Trotzdem will Güngormus sich verändern. Der zweifache Familienvater kündigt und kauft die Firma Kreutzmann in Backnang. Doch dann der gefühlte Kulturschock. Während es im Konzern für jeden Bereich eine eigenen Abteilung gibt, ist hier der Chef für fast alles zuständig, bis hin zur Buchhaltung. „Kreutzmann war so klein, dass ich alles machen musste. Ich bin gar nicht mehr zum Verkauf gekommen.“
Auch wenn der strebsame Jungunternehmer mehrfach kündigt, so hinterlässt er doch nie verbrannte Erde, sondern formuliert nur immer klar, was er will. Und wenn er seine Position nicht verwirklichen kann, zieht er die Konsequenzen. Die Verhältnisse bei Kreutzmann bezeichnet Güngormus heute als „mein erster Rückschlag“. Weil er sich aber mit seinem früheren Chef trotz der Kündigung gut versteht, bietet er ihm seine Firma zum Kauf an. Der greift zu, „und so war ich wieder im Konzern“. Doch zufrieden ist der umtriebige Macher, der parallel vier Jahre lang Managerstudiengänge besucht, wieder nicht. „In einem Konzern kann man sich zurechtfinden oder auch nicht. Ich hatte da meine Probleme.“
Der Ruf des umtriebigen Machers, der auf allen Gebieten viel bewegt, eilt dem Unternehmer voraus.
Der Ruf des tadellosen Geschäftsführers, der einiges bewegt, eilt dem Unternehmer schon längst voraus. Und so meldet sich die Geschäftsführerin von Kerres, wo Güngormus viele Jahre zuvor gearbeitet hat. Der Kontakt ist nie abgerissen. 2001 wird er Geschäftsführer und merkt, wie ernst es um den Betrieb steht. Unter der Bedingung, dass er als alleiniger Geschäftsführer das Sagen hat, bringt er das mittelständische Unternehmen auf Vordermann. Es wird eine echte Herausforderung. Aber das kann und liebt er. Die Situation, die er bei seinem Arbeitsantritt vorfindet, schildert er so: „Kein Geld, keine Aufträge, viele Mitarbeiter.“ Die harte Schule in Sachen Controlling, die der neue Boss in all den Jahren durchlebt hat, macht sich nun bezahlt. Der Geschäftsmann bezeichnet sich selbst als „smart, der – mit ruhiger Stimme zwar – aber hart durchgreift“. Der träge Dampfer wird wieder flott. Trotz des großen Erfolgs verkauft Güngormus 2013 die Firma und steigt bei allen Beteiligungen aus – dieses Mal aus persönlichen Gründen.
Nach zwei Jahren Auszeit wird der Kontakt zu Höfliger enger, nicht zuletzt weil er als Lions-Club-Mitglied Zugang zu Harros Runde der Weinfreunde findet. Thomas Weller, CEO bei Höfliger, überzeugt ihn, als kaufmännischer Berater seine große Erfahrung einzubringen. Drei Jahre lang macht er das: „Das war nicht immer einfach, ich habe in der Sache oft gestritten, aber das gehört dazu, ich bin sehr geradlinig.“ Als Markus Höfliger in den Aufsichtsrat geht, bietet er Güngormus seine Stelle als CFO an. Der Dreijahresvertrag soll schon nach einem Jahr verlängert werden, so sehr wird seine Arbeit geschätzt, dann ein Jahr später sogar um fünf Jahre. „Wir wollen ein Familienunternehmen bleiben. Aber bei 1500 Mitarbeitern und 300 Millionen Umsatz braucht man Controllingsysteme, und die konnte ich hier implementieren.“ Es ist eine Kunst, als Controller beliebt zu sein. Güngormus ist es. Sein respektvoller Umgang mit jedem in allen Situationen wird sehr geschätzt. Er bringt jedem Wertschätzung entgegen und lebt vor, dass Demut für ihn kein Fremdwort ist.
Zum 60. Geburtstag vor einem Monat schreiben die Mitarbeiter auf der Glückwunschkarte: „Ihr steter Antrieb, Neues zu wagen, sich zu verwirklichen und Dinge in die Hand zu nehmen statt abzuwarten – diese Eigenschaft prägt Ihr ganzes Berufsleben.“ Eine deutlich bessere Zensur als das „hat teilgenommen“ vor 50 Jahren.
In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.