Für den Leipziger Buchpreis nominiert

Ein Ozean aus Zitaten

Sonnensturm oder heiße Luft? In Christian Krachts neuem Roman „Air“ verschwindet ein Verschönerungskünstler in der Zeit, um die abgeschliffenen Tatbestände der Zivilisation mit neuem Leben zu erfüllen.

Schön, oder? Polarlichter über dem Eismeer.

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Schön, oder? Polarlichter über dem Eismeer.

Von Stefan Kister

Alles verflacht, das ist das Problem, an dem der Schriftsteller Christian Kracht eigentlich schon seit der Reise durch ein unwirtliches Deutschland in seinem Debüt „Faserland“ laboriert. Alles Mögliche hat er dagegen in Stellung gebracht, Barbourjacken, Kokosnüsse, Diktaturen, zuletzt das eigene Leben in seinem autofiktionalen Buch „Eurotrash“.

Sein neuer Roman „Air“ beginnt mit der Beschreibung eines Bildes: Es hängt im Zimmer eines kleinen Hauses am Wasser auf den schottischen Orkney Inseln und zeigt in einer hellen Kutte den Zauberer Merlin, der den auf einem schwarzen Pferd sitzenden Ritter Lancelot ins Schattenreich geleitet. Bilder sind zunächst einmal zweidimensional, also flach, auch wenn es anders scheint. Aber was, wenn es gelänge, ihren Raum zu betreten, als besäße er Tiefe. Darum geht es. Und weil zu jedem Bild auch Farben gehören, zeigt sich hier eine reiche Palette: Grün wie die Himmelsvorhänge des Polarlichts, gelbgallige Misanthropie, das Schiefergrau einer aufgeräumten Steinwelt – oder perfektes Weiß.

Paul, der Bewohner des Zimmers bringt Räume zur Geltung, Ästhetizismus als Beruf. Ein Magier, der hilft, „den entropischen, furchtbar deprimierenden Zustand des Lebens zu überlisten“. Auf dem Tisch liegt rechtwinklig zur Kante, Ordnung muss sein, der Stapel eines edel-elitären Magazins. Man könnte dabei an die seltsame, 2004 bis 2006 von Kracht und seinem in royaler popliterarischer Tristesse verbundenen Wegfährten Eckhart Nickel herausgegebene Kulturzeitschrift „Der Freund“ denken.

Im Stollen des Gedächtnisses der Menschheit

Einer Welt aus beschämender Distanzlosigkeit wieder Tiefe verleihen, das geht nur im Traum, in der Vorstellung oder im Roman. Der Herausgeber des Magazins verschafft Paul zwischen Vision und den Exzentrizitäten der Wirklichkeit einen speziellen Dekorationsauftrag. In einem norwegischen Bergwerk wird in einer gigantischen Cloud das digitale Gedächtnis der Menschheit gespeichert. Der Verschönerungskünstler soll die endlose unterirdische Halle ausmalen – in perfektem Weiß. Kürzlich ist man in dem Roman „Punk“ von Eckhart Nickel schon „weißem Lärm“ begegnet als einer Art endzeitlichem Rauschen der Massenkultur. Nun das perfekte Weiß.

So lange man hin und her überlegt, was das zu bedeuten hat, Ordnungsakt oder Löschvorgang, kann man ja mal kurz in ein Interview hineinhorchen, das Nickel vor einiger Zeit gegeben hat. Darin bezeichnet er als eine der schönsten Ideen über das Internet eine Serverfarm in einem Bergwerk in Nordnorwegen und meint: „Vielleicht ist das Internet ja doch gar nicht so banal, sondern etwas, das fremd aus dunkler Tiefe in uns hineinregiert.“ Von daher weht also der Wind. Und während Paul noch in Gedanken die Milliarden Liter Farbe erwägt, die er für seinen Auftrag benötigt, rast von der Sonne ein schockwellenartiger Magnetsturm mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung Erde. Und schon findet man sich in einer anderen Dimension von Zeit und Wirklichkeit wieder.

Verschachtelte Träume

Aus dem pulverisierten Datenspeicher setzt sich eine Geschichte zusammen, in der Motive aus anderen Welten schwimmen, wie Schollen im Eismeer und auf neue Ufer zutreiben. In einem von einer gelben Seuche verheerten Land trifft ein Fremder auf ein junges barfüßiges Mädchen, das ihn um ein Haar mit Pfeil und Bogen erlegt hätte. Auf der Flucht vor einem tyrannischen Herzog und seinen Häschern entwickelt sich ein Road-Movie durch eine Art Fantasia-Faserland, Berge, Wälder, steinerne Ödnis und einen Ozean aus Zitaten. Wie in den Artus-Romanen ist das Weltende nah.

Insgesamt sind die Sphären nicht ganz dicht, hier eine lockere Schraube, dort eine Verschachtelung von Träumen in Träumen. Und weil auch ein 3-D-Drucker die Möglichkeit eröffnet, aus dem Flachen herauszukommen, leistet eine mittels desselben fabrizierte Keramik-Pistole eine willkommene Ergänzung zu Pfeil und Bogen. Natürlich ist auch das ein Film-Zitat – „Stirb langsam“ mit Bruce Willis. „Es war überhaupt alles wie in der Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum“, so erscheint Paul, niemand anderes ist der Fremde, in was er da hineinversetzt wurde.

Das Insiderspiel exklusiver post- oder neopopkultureller Verrätselung hat eine einladende Außenseite. In der lässigen Dialogführung zwischen Mann und Mädchen zeigen sich die abgeschliffenen Tatbestände der Zivilisation als wäre es das erste Mal: Brille, Antibiotika, Papier, der Traum vom Fliegen. Ein Versuch, die Unschuld zurückzugewinnen, die Koordinaten von Norden und Süden, Gut und Böse neu zu bestimmen. Das Eismeer ist von hinten offen. Irgendwann paddelt auch der Herausgeber jenes Magazins vorbei – auf der Flucht vor seinem eigenen, sich selbst auffressenden avantgardistischen Streben, in einem Ruderboot namens Hoffnung.

Doch auch hier wird Paul das Gefühl nicht los, dass eine allmähliche Verflachung der Welt stattfand: „Es war ganz offensichtlich, und er musste schwer atmen, da er fühlte, zu ersticken oder flachgepresst zu werden, aber niemand sonst wusste, was er meinte.“ Am Ende irren zwei Männer durchs Bild wie Merlin und Lancelot.

Fernab der Orkney-Inseln, aber im Einzugsbereich eines akut sehr deprimierenden und chaotischen Weltzustands, grübelt man noch lange, ob man es bei diesem erzählerischen Ordnungsversuch mit Symptom, Diagnose oder Heilung zu tun hat. Oder ob es in der disruptiven Wirklichkeit gerade nicht doch ganz andere Probleme gibt als den lebenslangen großen Ennui angesichts des Gewöhnlichen.

Christian Kracht: Air. Kiepenheuer&Witsch. 224 Seiten, 25 Euro.

Info

Autor Christian Kracht, geboren 1966 in Gstaad/Schweiz, ist in den USA, Kanada und Südfrankreich aufgewachsen. Sein Vater war Generalbevollmächtigter Axel Springers. Kracht hat als Journalist unter anderem für „Tempo“ und „Spiegel“ gearbeitet.

WerkSein erster Roman, „Faserland“, erschienen 1995, gilt als eine Art Urknall der deutschen Popliteratur. Es folgten „1979“, „Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten“, „Imperium“, „Die Toten“ und „Eurotrash“. „Air“ ist Krachts siebter Roman. Zusammen mit seiner Frau, der Regisseurin Frauke Finsterwalder, mit der er eine Tochter hat, schrieb er das Drehbuch zu „Finsterworld“.

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Erstellt:
11. März 2025, 12:08 Uhr

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