Einblicke in Sammlerseelen und Forschungsarbeit

„Kehrseite(n) – von Meisterwerken, Sammlern und Marken“ im Backnanger Graphik-Kabinett – Die Nachlässe von Ernst Riecker und Otto Freiherr von Breitschwert

Das Graphik-Kabinett Backnang und das Kunsthistorische Institut der Universität Tübingen widmen sich in einer Ausstellung im Backnanger Graphik-Kabinett der Herkunft und Geschichte von Grafiken aus ihren Sammlungen: der Backnanger Riecker-Sammlung sowie der Sammlung von Otto Freiherr von Breitschwert, dessen Grafikbestand 1910 testamentarisch der Universität Tübingen vermacht wurde. Die Ausstellung wird heute um 20 Uhr eröffnet.

Als zweite Realität eines Kunstwerks wird die Rückseite gesehen. Den Grafiken gegenübergestellte Installationen verdeutlichen dies.Fotos: P. Wolf

Als zweite Realität eines Kunstwerks wird die Rückseite gesehen. Den Grafiken gegenübergestellte Installationen verdeutlichen dies.Fotos: P. Wolf

Von Ingrid Knack

BACKNANG. Exemplarisch wurden für die Backnanger Ausstellung aus den beiden Sammlungskomplexen 55 Meisterwerke, die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende erworben wurden, wissenschaftlich untersucht. Darunter auch Arbeiten von Albrecht Dürer (von den Sammlern für maximal 350 Mark erworben) und Rembrandt – wobei sich nur bei dem geborenen Reutlinger Otto Freiherr von Breitschwert (1829 bis 1910) Rembrandts finden. Dass aber auch Ernst Riecker (1845 bis 1918) Grafiken des niederländischen Künstlers des Barocks besaß, davon geht Graphik-Kabinett-Leiterin Celia Haller-Klingler aus.

Ihre Annahme ist keine bloße Mutmaßung. Denn Riecker war ein penibler, ein sehr systematisch vorgehender Sammler, mit einem Faible für Folgen. Er richtete sich nach dem damaligen Standardwerk „Le peintre graveur“ (Der Maler-Grafiker) von Adam von Bartsch, dem Begründer der systematisch-kritischen Grafikwissenschaft. Das 21 Bände umfassende Werk erschien zwischen 1803 und 1821 in französischer Sprache. Nach Schulen gegliedert finden sich dort Verzeichnisse zur Druckgrafik Alter Meister des 15. bis 18. Jahrhunderts.

Die Stiftungsmasse

beinhaltet 1611 Blätter

Zu den Anhaltspunkten für Haller-Klinglers Überzeugung gehören die Inventarnummern auf den Rückseiten der Werke aus der Riecker-Stiftung. 1611 Blätter kamen 1928 nach einer langen Reise über den großen Teich in Backnang an. Etliche höhere Inventarnummern zeigen, dass das nicht alles war, was Riecker in diesem Bereich besaß. „Zumindest ein Viertel muss es mehr gewesen sein“, so Haller-Klingler. „Das ist ein interessanter Fakt. Ich richte mich nach Fakten...“ Und es gibt einen Vermerk in den Stadtakten aus dem Jahr 1929, dass die Rembrandts in Amerika gestohlen worden sein sollen. „Das steht zwar in den Backnanger Stadtakten, ist aber nicht verifiziert“, erklärt Haller-Klingler. Zudem schränkt sie weiter ein: „Dies wurde vielleicht nur vermutet, weil sie sich mehr erhofft hatten. Die Aussage allein beweist mir gar nichts.“ Vielleicht stößt sie ja noch auf eine entsprechende Notation, das wäre ein Glücksfall.

Ferner taucht auf einer „Wunschliste“ dreimal der Name Rembrandt auf. Auf welchen Auktionskatalog sich Riecker bezog, ist nicht bekannt. Dann gibt es überdies Hinweise darauf, dass ein Inventarbuch ebenfalls in den Kisten lag, die nach einer Odyssee endlich nach Backnang kamen. Doch dieses ist verschollen. Dr. Musper, einst Leiter des Kupferstichkabinetts in Stuttgart, hat bei der Sichtung der Sammlung 1929 ein neues Inventarbuch angelegt. Es wäre möglich, dass das alte, das Aufschluss auch über Kodierungen geben könnte, bei einem Brand in der Staatsgalerie vernichtet wurde. Aber das ist Spekulation. Hier sind wir mitten drin in der Forschungsarbeit. Um an unumstößliche Erkenntnisse zu gelangen, sind gerade die Rückseiten der Grafiken interessant. Das macht die Ausstellung anschaulich.

Den Werken an den Wänden sind stelenartige Objekte inmitten der Räume gegenübergestellt, die schon allein für sich als Installation gesehen werden können. Vor allem geht es indes darum, die an Schnüren hängenden Bilder von den Rückseiten der Originale ins Licht zu rücken. Die Rückseiten und die Vorderseiten werden hier als gleichwertig präsentiert. Die Schnüre stehen sinnigerweise für einen Vorhang, den man wegschieben, durch den man hindurchschauen kann. Zusätzlich gibt es erklärende Texte. Und die unterschiedlichen Farbtöne in den beiden Stockwerken stehen für zwei verschiedene Sammlertypen – Breitschwert, der an der Universität Tübingen Jura studierte, kann wie Riecker zwar sehr penibel sein. Gleichwohl sammelt er nach Gusto – worauf zum Beispiel Reiseaquarelle hinweisen. Bei diesem Universalsammler, der sich auch für die Grafik interessiert, sind unter anderem erhaltene Rechnungen wertvoll für die Arbeit der Kunsthistoriker.

Erhellend sind außerdem die Exponate aus der einstigen Handbibliothek Rieckers, die die Graphik-Kabinett-Leiterin als „absoluten Segen für Kunsthistoriker“ bezeichnet. Haller-Klingler: „Er legt überall kleine Zettelchen rein und schreibt Anmerkungen.“ Sogar auf einem Rezeptblock. Aufschluss über die Sammlertätigkeit Rieckers geben obendrein alte Passagierlisten, aus denen hervorgeht, dass Riecker mindestens viermal nach seiner Auswanderung in die USA in seiner Heimat war. „Hier in Europa hat er gesammelt“, weiß Haller-Klingler. Auch mithilfe von Mittelsmännern. „Er war der klassische Grafiksammler.“ Werke aus dem 15. bis 19. Jahrhundert fanden sein Interesse. Bei Breitschwert ist das 15. Jahrhundert kaum vertreten.

14 Masterstudenten der Universität Tübingen haben im Wintersemester 2017/2018 zusammen mit Anette Michels, Kustodin der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut und des Gemäldebesitzes der Universität Tübingen, sowie Celia Haller-Klingler an dem Projekt unter dem Titel „Biographie der Objekte“ mitgearbeitet. Zu den Ergebnissen gehört auch ein Katalog, der sicher in der Fachwelt große Beachtung finden wird. Dabei geht es wie in der Ausstellung um Wasserzeichen, Notation, Sammlermarken- und stempel, Passpartourieren, eine Datenbank in Paris, Druckzustände, Techniken, Spuren des Gebrauchs und der Bearbeitung, Preisangaben, Korrespondenzen und Verklausulierungen (besonders bei Riecker) und vieles mehr – das Ziel ist stets eine lückenlose Herkunftsgeschichte und Verifizierung eines Werkes beziehungsweise einer Sammlung. „Es macht das Blatt wertiger, wenn man weiß, woher es kommt“, sagt die Kunsthistorikerin.

Ernst Riecker und Otto Freiherr von Breitschwert könnten sich übrigens gekannt haben. Sie kauften bei denselben Auktionshäusern. Einen Beleg dafür gibt es aber nicht.

Neues „Riecker-Zimmer“ Info Das Graphik-Kabinett Backnang wurde 2002 im Backnanger Helferhaus eröffnet, um dort die Schätze des Sammlers Ernst Riecker in wechselnden Ausstellungen zeigen zu können. Bislang war es aber nicht möglich, zu jeder Zeit eine solche Werkschau zu besichtigen. Andere Ausstellungen erstreckten sich zum Teil über alle Stockwerke im Helferhaus. Nun soll im Herbst ein „Riecker-Zimmer“ eingerichtet werden, in dem unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse immer wieder andere Blätter aus dem Nachlass des nach St. Louis (USA) ausgewanderten Backnanger Apothekers gezeigt werden, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt. Die Eröffnung ist im Herbst. Es soll der Auftakt der erneuten systematischen Bearbeitung der Riecker-Sammlung sein. 1928 kam die Sammlung nach Backnang. Ernst Riecker hatte zwischen 1870 und 1918 eine kostbare Sammlung von Meisterwerken europäischer Druckgrafik aufgebaut. Er bestimmte, dass die Druckgrafiken, die aus der Zeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert stammen, und seine Bibliothek in den Besitz seiner Heimatstadt Backnang übergehen sollten. Riecker hat große Teile von Dürers druckgrafischem Schaffen en bloc gesammelt, ein Meisterstich fand sich nicht. In Backnang kam das Erbe erst nach einigen Irrungen und Wirrungen an. Als Riecker 1918 wenige Wochen vor seinem 74. Geburtstag in St. Louis starb, beschlagnahmten die amerikanischen Behörden das „Feindvermögen“. Erst Jahre später wurde die Sammlung freigegeben. Der in Philadelphia lebende Adolf Breuninger, ein Bruder des Kommerzienrats Eduard Breuninger, ließ die Werke auf eigene Kosten zunächst nach Philadelphia kommen und dann 1928 per Schiff nach Hamburg bringen. Die Fracht von Hamburg nach Backnang übernahm Eduard Breuninger. Die Sammlung hatte während der Jahre der Beschlagnahmung und auf dem Transport über den großen Teich schweren Schaden genommen. Der Kunstschatz war teilweise durch Mäuse- und Mottenfraß, Meerwasser und Kohlestaub zerstört worden. Über den Inhalt der Kisten aus Amerika war man in Backnang deshalb zunächst schwer enttäuscht. Dennoch wurde die Sammlung in die Hände von Dr. Musper, künstlerischer Leiter der Kupferstichabteilung der Staatlichen Kunstsammlungen in Stuttgart, gegeben, um die Schäden zu beheben. In Stuttgart gab es eine Ausstellung. Danach wurden die Werke über längere Zeit auf der Rathausbühne und dann in der Mörike-Schule in Backnang gelagert. Später erwarben sich der frühere Kulturamtsleiter Klaus Erlekamm, der Backnanger Rolf Zehender, der Kunsthistoriker Ewald Jeutter, der Heimat- und Kunstverein und der Kunsthistoriker Felix Reuße Verdienste um die Sammlung. Reuße, der sechs Riecker-Ausstellungen kuratierte, hat von 1611 Blättern höchstens 60 wirklich untersucht. Es gibt also noch viel Arbeit für die Kunsthistoriker. Die Riecker-Sammlung umfasst durch Ankäufe derzeit 1980 Blätter.
„Die Schaustellung Christi“ von Albrecht Dürer, Ernst-Riecker-Sammlung Backnang.

„Die Schaustellung Christi“ von Albrecht Dürer, Ernst-Riecker-Sammlung Backnang.

Otto Freiherr von Breitschwert mit seiner Mutter.

Otto Freiherr von Breitschwert mit seiner Mutter.

Ernst Riecker

Ernst Riecker

Rembrandt: Selbstbildnis mit gerunzelter Stirn, Graphische Sammlung Universität Tübingen.

Rembrandt: Selbstbildnis mit gerunzelter Stirn, Graphische Sammlung Universität Tübingen.

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Erstellt:
8. Juni 2018, 06:00 Uhr

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